Manchmal bleiben wir mit wichtigen Personen in unserem Leben, wie z.B. Eltern oder anderen wichtigen Personen, auf eine ungünstige Weise verbunden. Gemeint ist diejenige Art von Verbundenheit, die wir bei Familienaufstellungen auch als „Verstrickung“ bezeichnen. Dabei werden aus dem Feld des Familiensystems über eine unbewusste Identifizierung fremde Gefühle übernommen oder auch fremde Schicksale, Verhaltensweisen, Konflikte oder gar Erkrankungen. Gemeint ist hier also nicht die gesunde Bindung an andere Menschen oder das Herkunftssystem. Die gesunde Bindung ist lebensfördernd, sie dient dem Fluss der ursprünglichen Liebe und macht frei für Neues und für eigenständiges, mir gemäßes Handeln. Die ungünstige Bindung als Verstrickung macht dagegen unfrei, sie blockiert den natürlichen Lebensfluss und hält uns in ungünstigen Mustern im Verhalten fest.
Spezifisch geht es in diesem Beitrag um Erwartungen an wichtige Personen in unserem Leben, an denen wir festhalten, ohne es oft wirklich zu merken. Und noch genauer geht es um Erwartungen, bei denen wir aus Erfahrung wissen, dass sie von der fraglichen Person nicht erfüllt werden. Zusätzlich ist es meist auch so, dass die Erfüllung dieser Erwartungen in der Vergangenheit, also etwa in der Kindheit oder Jugend, sinnvoll und notwendig gewesen wäre, die Erfüllung der Erwartungen also schmerzlich vermisst wurde, aber in meinem Jetzt als erwachsene Person vielleicht gar nicht mehr angemessen wäre.
Die nicht perfekten Eltern und die seelischen Wunden der Kinder
Am deutlichsten wird dies in der Beziehung zu unseren Eltern. Das kleine Kind kommt sehr abhängig und bedürftig auf die Welt. Es ist auf Fürsorge und die liebevolle Zuwendung durch die Eltern angewiesen. Im Idealfall wird ein als Kind als Neugeborenes voller Freude willkommen geheißen und die wichtigen Bezugspersonen sind willens und in der Lage, diesen neuen Erdenbürger – den Nachwuchsmensch im Trainee-Programm, welches wir Kindheit und Jugend nennen – in all seinen Besonderheiten nicht nur zu sehen, sondern auch in der Entwicklung der ganz einzigartigen Anlagen zu fördern. Aber: Dies beschreibt eben ein Ideal. Und kein Ideal ist im Leben tatsächlich ohne Abstriche verwirklichbar. Eltern sind nicht perfekt[1], sie sind Menschen und somit fehlbar.
Das Kind erlebt also im Laufe des Heranreifens ein gewisses Ausmaß an Enttäuschungen von Erwartungen. Und ich meine hier jetzt nicht beliebige selbstsüchtige Ansprüche, sondern ich meine die Erwartungen, die wir alleine durch unsere Biologie mitbringen. Wir sind als Menschen – auch – Säugetiere, und zwar Säugetiere mit einer besonders langen Adoleszenz. Und hier gibt es von Anfang an ein Gefühl dafür, was man als komplexes Lebewesen benötigt, um sich gedeihlich zu entwickeln. Das Gefühl für stimmige Entwicklungsbedingungen ist von Anfang an vorhanden, auch wenn es erst sehr spät in der Entwicklung, wenn überhaupt, sprachlich ausgedrückt werden kann. Und das Gefühl äußert sich, wenn etwas fehlt, etwas vermisst wird.
Nun sind diese Enttäuschungen von Erwartungen wie gesagt gar nicht zu vermeiden. Es ist eine Frage des Ausmaßes. Ein gewisses Ausmaß an nicht erfüllten Erwartungen ist vermutlich sogar notwendig und im Effekt entwicklungsförderlich. Allerdings: Wenn es an wichtigen Voraussetzungen für eine gedeihliche Entwicklung in einem bedeutsamen Ausmaß und dauerhaft fehlt, dann entstehen so etwas wie „seelische Urwunden“. In einem therapeutischen Kontext kann man auch von Traumata sprechen, und zwar in Form von Entwicklungstraumata (im Gegensatz zum Schocktrauma).
Ich bin den verschiedenen Formen von solchen seelischen Urwunden hier im Blog in einer 9-teiligen Artikelserie zwischen August 2023 und April 2024 ausführlich nachgegangen[2]. Hier geht es mir um etwas Anderes.
Die unterschwellige Bindung an das noch Offene und Unerledigte
Es gibt in unserer Psyche einen Mechanismus, der dafür sorgt, das noch offene Fragen oder auch unabgeschlossene Handlungen unterschwellig weiter verfolgt werden. Wenn ich eine Handlung begonnen, aber noch nicht abgeschlossen habe, wird ein Teil meiner geistigen Kapazität dafür verwendet, die Erinnerung daran, dass hier noch etwas zu tun ist, unterschwellig am Leben zu halten. Wenn wir ein Gespräch oder eine Veranstaltung mit einer für uns interessanten offenen Frage verlassen, dann arbeitet unser Geist im Unbewussten, manchmal sogar leicht merkbar im Randbewussten, an der Beantwortung dieser Frage, auch wenn wir uns mit dem normalen Tagesbewusstsein mit ganz anderen Dingen beschäftigen. Auch bei Lebensplänen oder sog. „Lebensskripten“ ist es oft so: Wenn ich den Weg zu einem größeren Lebensziel eine bestimmte Wegstrecke gegangen bin und dann diesen Weg durch bestimmte Umstände unterbrechen musste, dann bleibt in meinem Geist immer latent die Tatsache präsent, dass hier noch etwas unerledigt und nicht abgeschlossen ist. Und diese gedankliche Präsenz des Unabgeschlossenen hat einen großen Aufforderungscharakter.
Ähnlich ist es auch mit wichtigen Gefühlen und Emotionen, die auf etwas Fehlendes und Unabgeschlossenes verweisen und eben auch mit den Dingen, die bei uns in der Kindheit und Jugend gefehlt haben und die wir schmerzlich vermisst haben. Diese Dinge entfalten in unserem Innenleben und im seelischen Raum eine Bindung – die uns aber nicht immer gut tut. Ich möchte fast sagen, das was uns früher im Leben intensiv gefehlt hat, was also eine Art seelische Wunde damals war, entwickelt einen „klebrigen“ Charakter. Und das tut uns oft nicht gut, schränkt uns ein oder blockiert uns. Ein Teil unseres Potentials, was wir jetzt vollbringen könnten im Leben, ist gebunden an das, was früher gefehlt hat und steht nicht zur vollen Nutzung zur Verfügung.
Die unausgesprochenen Erwartungen
Natürlich sind hier die Eltern besonders wichtig für diejenigen Formen der Aufmerksamkeit, Anerkennung, Unterstützung usw., deren wir damals in unserem jüngeren Selbst so dringend bedurft hätten, die wir aber von unseren Eltern damals eben nicht erhalten haben. Warum auch immer das so war, ob die Eltern es gar nicht bemerkt haben, ob sie es gar nicht konnten – das ist einerlei.
Mein Eindruck, auch über viele Beispiel in Familienaufstellungen, ist: Warum wir uns so schwer lösen können von dem, was uns damals gefehlt hat, was wir jetzt aber als Erwachsen nicht mehr von Anderen benötigen, sondern selber erledigen können, hat damit zu tun, dass wir das damals Fehlende immer noch von unseren Eltern erwarten. Dies ist sicherlich oft höchst unbewusst, allenfalls manchmal vielleicht randbewusst, d.h. mit viel Selbstaufmerksamkeit und hinspüren bei mir selber kann ich es als feine Regung bemerken. Es ist dieser Wunsch oder die Erwartung, es möge im Kontakt mit meinen Eltern einmal anders sein, einmal möchten wir es erleben, dass wir das damals Fehlende doch noch, sozusagen nachträglich, von unseren Eltern erhalten. Vielleicht eben eine bestimmte Form der Anerkennung oder das wir in unserem So-Sein, in unserer Besonderheit gesehen und bestätigt werden.
Wie gesagt: Wir sind uns meist dieser Erwartungen an unsere Eltern nicht bewusst. Es ist eine unausgesprochene Erwartung, unausgesprochen auch vor uns selber. Und gerade dieser latente oder unterschwellige Charakter dieser Erwartung hält uns besonders gefangen und verhindert, dass wir uns lösen können von diesem Anspruch. Wenn wir uns den unausgesprochenen Erwartungen bewusst wären, dann würden wir in den meisten Fällen auch sofort erkennen: Es ist nicht zu erwarten, dass ich von meinen Eltern das damals Fehlende doch noch einmal bekomme. Wir wüssten sehr schnell, dazu kennen wir sie lange genug, an genau dieser Stelle haben sie vielleicht einen sog. „blinden Fleck“ oder sind einfach für dieses Bedürfnis nicht wirklich „schwingungsfähig“, so wie sie nun einmal sind mit ihren Eigenheiten und mit dem, wodurch sie geprägt wurden in ihrem Leben. Und wir würden vielleicht auch Bemerken: Jetzt, als erwachsene Person, benötige ich dasjenige, was mir als jüngerem Selbst gefehlt hat, auch eigentlich gar nicht mehr wirklich. So wie ich mit einem bestimmten Spielzeug, dass ich als Kind vielleicht gerne gehabt hätte aber eben nicht hatte, heute nicht mehr so wirklich viel anfangen könnte.
Die lösende Bewegung
Ich habe im Rahmen von Familienaufstellungen festgestellt, dass die in Erwartungen an unsere Eltern gebundene Energie wieder freigesetzt werden kann. Dazu benötigt es eine bestimmte (innere) Bewegung. Wenn ich etwa im Rahmen einer Aufstellung meiner Mutter oder meinem Vater gegenüber stehe, dann schaue ich auf das Elternteil, ich schaue den Vater oder die Mutter an und schaue ihm oder ihr in die Augen. Kurz: Ich schaue hin! Ich schaue nicht (nur) auf mich und mein Defizit.
Und ein wesentlicher Teil der lösenden Bewegung ist dann, dass ich Kontakt aufnehme und deutlich spüre, was ich von meinen Eltern tatsächlich erhalten habe. Und das Wichtigste dabei ist: Von ihnen habe ich das Leben erhalten. Von Ihnen habe ich mein Leben empfangen. Und das ist so fundamental, dass es die Einschränkungen, den Mangel und die Defizite überwiegt. Und dafür kann ich dankbar sein, wie auch immer die sonstigen Umstände gewesen sein mögen.
Dieser Teil der lösenden Bewegung gehört sozusagen zur Ur-DNA der Familienaufstellungen. Das Leben erhalten zu haben, ist ein großes Geschenk. Auch wenn manches schwer war, oder schlimm war. Wie zentral diese Grundtatsache des Lebens ist, kann man ermessen, wenn man sich die Frage stellt: Wäre es besser, wenn es mich nicht gäbe?
Zur lösenden Bewegung gehört aber meinem Eindruck nach dann aber auch, dasjenige, was damals bedeutsam gefehlt hat, klar zu benennen. Es geht hier um einfache Aussagesätze, nach Möglichkeit ohne Vorwurf, eher als Feststellung. Auch hier: Wir stehen Vater oder Mutter gegenüber, schauen sie an, fassen sie in ihrem gesamten So-Sein ins Auge und sagen: „Damals, als Kind, hat mir xxx von dir sehr gefehlt.“ Oder: „Damals hätte ich mir von dir xxx so sehr gewünscht.“ Und xxx steht natürlich für das, was gefehlt hat und was einmal möglichst klar, aber auch einfach und kurz benannt werden sollte. Und evtl. fügen wir noch an: „Und damals war das schwer für mich“ oder auch „damals war das schlimm für mich“. Wir beziehen uns also auf die Vergangenheit, so wie wir sie erlebt haben. Wie es uns damals als Tochter oder Sohn mit den Eltern ergangen ist.
Dieser Teil ist nach meinem Eindruck in den Familienaufstellungen erst später mit der Entwicklung der Familienaufstellungen üblicher geworden. Aber dieser Schritt in der inneren Bewegung ist genauso wichtig, er ist die Ergänzung zum ersten Schritt, der Dankbarkeit für das Leben. Beides muss sich ergänzen, in einem gewissen Gleichgewicht sein.
Und dann benötigt es noch einen dritten Schritt in der Bewegung, der mir erst kürzlich wirklich klar geworden ist. Wir schauen immer noch auf Vater oder Mutter und sagen: „Damals hätte ich xxx gebraucht. Aber jetzt, wo ich schon einige Zeit erwachsen bin, erwarte ich es nicht mehr von dir.“ Auch hier: Wir sagen das ohne Bitterkeit, sondern gesammelt und als einfache Tatsachenfeststellung. Ich bin jetzt anders, meine Lebenssituation ist jetzt anders. Und wenn wir diesen Satz sagen, spüren wir nach, wie es uns mit dem Satz ergeht. Stimmt er? Können wir uns wirklich vollständig lösen von der Erwartung? Wenn wir es (noch) nicht können, verändern wir den Satz. Vielleicht in die Form: „Aber jetzt, als Erwachsener, bemerke ich, es wäre gut für mich, wenn ich von meiner Erwartung an dich lösen könnte, in dem Ausmaß, wie es für mich gerade möglich ist.“
Dieser letzte Schritt der Bewegung löst den Anspruch, den ich vielleicht noch habe gegen meine Eltern, vielleicht auch ohne es zu merken. Ich löse mich von dem Anspruch, gehe in meine wahre Größe und Kraft und bleibe handlungsfähig.
Mir scheint, dass diese Bewegung in allen drei Teilen der Bewegung dazu beiträgt, dass die seelischen Wunden von früher jetzt für mich nur noch Narben sind. Ich kann mich erinnern, mit Blick auf die Narbe: Da war mal etwas und damals war es schmerzhaft. Aber jetzt schmerzt es nicht mehr, die seelische Wunde ist ausgeheilt. Es bleibt lediglich: Die Erinnerung … und eben die Narbe.
[1] Nebenbei bemerkt: Gäbe es „perfekte“ Eltern, wäre es durchaus fraglich, ob dies wirklich wünschenswert wäre. Einerseits, weil ein gewisses Ausmaß an Schwierigkeiten, an nicht perfekten Lebensbedingungen überhaupt erst Entwicklung und Reife ermöglicht und uns als Persönlichkeit ein „seelische Gewicht“ verleiht. Im Sport sagt man: Die Charakterbildung erfolgt anhand der Niederlagen, nicht anhand der Siege und Triumphe. Aber auch unabhängig davon: Wären wirklich perfekte Eltern überhaupt auszuhalten für die Kinder? Was für eine Art von Druck würde dies allein über das Lernen am Vorbild in den Kindern erzeugen? Ich vermute, wenn es perfekte Eltern gäbe, wäre dies für die Kinder eine im Wortsinne unmenschliche Situation.
[2] Die Teile der Artikelserie finden sich hier: Teil1, Teil2, Teil3, Teil4, Teil5, Teil6, Teil7, Teil8 und Teil9.