Im letzten Blogbeitrag ging es um den Bruch in der männlichen Linie, vor allem dadurch, dass ein Vorfahr in der männlichen Linie nicht als zugehörig angenommen werden kann, zum Beispiel weil er ein Täter war im Zusammenhang mit Gewaltverbrechen. In diesem Beitrag will ich dagegen den Bruch in der weiblichen Linie darstellen, wie er sich häufig in Familienaufstellungen gezeigt hat. Natürlich: Jeder Einzelfall ist anders.
Aber mit scheint in vielen Fällen der Bruch in der weiblichen Linie nicht so sehr von Taten der weiblichen Vorfahren herzurühren, sondern eher von Unterlassungen. Nicht etwas, was geschehen ist, spielt so sehr eine Rolle, sondern etwas, was nicht stattgefunden hat. Die Annahme der Ahnenlinie in der Seele ist nicht belastet durch etwas, was war, sondern durch etwas, was gefehlt hat.
Was meine ich damit? Es geht um erster Linie um das Fehlen der liebevollen Annahme des Kindes, vor allem der Tochter (wir reden ja hier über die weibliche Linie) durch die Mutter.
Die Mutter, die seelisch nicht wirklich verfügbar ist
Belastungen in der weiblichen Ahnenreihe entstehen oft, wenn eine Mutter ihre Tochter nicht wirklich sieht, wenn es an Aufmerksamkeit und Liebe fehlt. Häufig stellt es sich so dar, als ob die Mutter seelisch betrachtet nicht wirklich anwesend ist. Wie entsteht so etwas? Oft ist die Mutter innerlich bei einem Toten, ihre seelische Kapazität ist sozusagen besetzt und damit nicht für die Lebenden, also z.B. ihre Kinder, verfügbar. Diese tote Person kann in manchen Fällen die Mutter der Mutter sein, die früh verstarb, als die Mutter noch sehr klein war. Manchmal ist es aber auch ein totes Geschwisterkind, bei dem die Mutter sozusagen innerlich weilt. Oder es könnte auch ein eigenes verstorbenes Kind sein, das entweder in sehr frühem Kindheitsalter oder während der Schwangerschaft verstarb.
Im Erleben der Tochter ist die Beziehung zur Mutter von einer gewissen emotionalen Kälte geprägt, es fehlt an Wärme und Herzlichkeit. Die wesentlichen Dinge im Praktischen werden vielleicht durchaus vollzogen, die Kinder werden ernährt, gekleidet usw. Aber es fehlt das Gefühl auf der Seite des Kindes, wirklich willkommen zu sein. Das Kind, die Tochter, spürt – vielleicht sehr unterschwellig, aber besonders kleine Kinder haben hier ein sehr sensibles Gespür – das es eine Belastung für die Mutter ist, dass es vielleicht besser wäre, wenn es gar nicht da wäre. Und natürlich ist dann der Fluss der ursprünglichen Liebe zwischen Mutter und Kind arg gedrosselt.
Es ist auch nicht selten, dass sich eine in dieser Weise sehr beschränkte emotionale Bindung zwischen Mutter und Tochter über mehrere Generationen hinweg erstreckt. Wenn also eine Mutter aufgrund eines traumatischen Verlusts für ihre Tochter nur eingeschränkt verfügbar ist, kann es sein, dass diese Tochter ihren eigenen Kindern gegenüber auch ein wenig emotional „auf Sparflamme kocht“, und sei es nur, weil sie es von ihrer eigenen Mutter nicht anders gelernt hat. Was es heißt, eine Frau und eine Mutter zu sein, lernt die Tochter ja in erster Linie von ihrer Mutter.
Was hier hilft
Wie kann in solch einer Konstellation eine Lösung aussehen? Ein wesentlicher Punkt scheint mir zu sein, dass die inzwischen erwachsene Tochter auf ihre Mutter schaut und wirklich sieht, wir stark diese durch eine Bindung an eine tote Person „innerlich gefangen“ ist. Das zu erleben, zum Beispiel in einer Aufstellung, welche seelischen Kräfte hier wirken und vor allem wie stark sie wirken, gibt dem Erleben von fehlender Beachtung als Kind einen anderen Rahmen.
Wenn in einer Aufstellung eine (inzwischen erwachsene) Tochter vor ihrer Mutter steht und ihr sinngemäß – die konkrete Formulierung muss natürlich im Einzelfall gefunden werden – sagt: „Damals, als Kind, habe ich manches schmerzlich vermisst bei dir und das war sehr schwer für mich“ und dann, nach einer angemessen Pause, um diesen Satz wirken zu lassen, noch dazu sagt: „Aber jetzt sehe ich, wie sehr du woanders seelisch gefangen warst. Ich sehe, dass du mir gegeben hast, was du geben konntest, mehr war für dich einfach nicht möglich“ – dann kann sich etwas lösen. Durch die beiden Teile der Aussage wird beides gewürdigt: Das verletzte innere Kind, welches den Mangel gespürt hat und aber auch die erwachsene Frau, die trotz der emotionalen Entbehrung groß geworden ist und im besten Fall ihr Leben meister, so gut sie es eben vermag.
Oft ist es auch hilfreich, den Wahrnehmungsfokus auf das zu lenken, was in so einer Situation als Tochter trotz allem empfangen wurde, nämlich das Wichtigste überhaupt, das eigene Leben. Was immer auch entbehrt wurde, damals, früher als Kind, die fundamentale Tatsache bleibt: Ohne diese Mutter, mit allen ihren Beschränkungen, gäbe es die Tochter nicht. Das Geschenk des Lebens, das wurde in jedem Fall empfangen, wie immer sonst die Umstände gewesen sein mögen. Der Beweis liegt schlicht darin, dass es die Tochter gibt und dass sie erwachsen geworden ist. Und diese ganz existenzielle Tatsache wiegt schwerer als jeder Mangel, der empfunden worden sein mag.
Der Bypass
Noch etwas anderes lässt sich in Aufstellungen mit diesem Thema mitunter beobachten: In vielen Fällen, natürlich nicht immer, gibt es für die liebevolle Zuwendung, die seitens der Mutter gefehlt hat, einen Ersatz. Oft ist es die Großmutter, zu der eine besonders herzliche Beziehung bestand, es kann aber auch ein anderes Mitglied der Herkunftsfamilie sein.
Bildlich gesprochen sieht es oft aus wie ein Bypass. In der Medizin bezeichnet ein Bypass künstlich angelegte Umgehung von geschädigten Blutgefäßen, so dass die Versorgung sozusagen unter Umgehung einer Blockade sichergestellt ist. Und in Aufstellungen sieht man manchmal die weibliche Ahnenreihe und es ist deutlich, dass emotional bei der Mutter eben nicht viel zu holen ist. Aber hinter der Mutter steht deren Mutter, die Großmutter, und Großmutter und Enkelin strahlen sich an und man spürt: Hier fließt sie, die ursprüngliche Liebe. Die Liebe fließt von der Großmutter um die Mutter herum zur Enkeltochter. Hier kann eine emotionale Sättigung stattfinden, nur ist die Quelle vielleicht eine andere als die eigene Mutter.
Auch so etwas kann helfen und lösen, wenn es deutlich wahrgenommen werden kann. Es entlastet das Verhältnis zur Mutter von Forderungen und Ansprüchen, welche jene vielleicht nicht in der Lage war zu geben, wenn die emotionale Nährung über eine andere Quelle möglich war.