Der zweite Archetyp: Die Sinnliche

Vorbemerkung: Dieser Text ist Teil einer 12-teiligen Serie über bestimmte Gestalten am Urgrund einer jeden menschlichen Seele, die wir in der Psychologie mit der Bezeichnung „Archetyp“ belegen. In jedem der 12 Teile wird jeweils einer der 12 wesentlichen Archetypen vorgestellt. Diese Gestalten gibt es bei jedem Menschen als innere Personen. Allerdings spielt nicht jede einzelne Gestalt in jedem Leben eine bedeutende Rolle. In Schauspiel meines Lebens gibt es natürlich Hauptrollen, aber eben auch Nebenrollen und Komparsen. Manche dieser kollektiven Urgestalten in mir kenne ich bis zu einem gewissen Grade. Andere sind mir völlig unbekannt und wenn sie dann doch einmal kurz in einer Szene auftauchen, bin ich überrascht.   

Manchmal erweist es sich in Familienaufstellungen als sinnvoll oder sogar notwendig, einen der Archetypen über Stellvertreter aufzustellen. Entweder, weil das Thema eng mit diesem Archetypus verbunden ist oder weil bei der Person, um die es geht, dieser Archetypus erkennbar dominant im Vordergrund steht. 
Die Beschreibungen des jeweiligen Archetyps sollen dich, liebe Leserin / lieber Leser, anregen, diese Gestalt in dir zu entdecken und vielleicht auch, mit ihr Kontakt aufzunehmen und in einen Austausch zu treten.

Einen Artikel darüber, was Archetypen allgemein sind und wie sie in unserer Seele wirken, findest du hier. Das dort gesagte gilt übergreifend für
alle Archetypen.

Widmung:

Diese Artikelserie ist meinem großen Lehrer Peter Orban gewidmet, der im Oktober des vergangenen Jahres verstorben ist. Lieber Peter, alles was ich über Archetypen meine verstanden zu haben, habe ich von dir. Wenn ich jetzt mein Verständnis der Archetypen beschreibe, möge dies ein Indiz dafür sein, dass deine Saat aufgegangen ist. Ein wenig lebst du weiter in denen, die von dir lernen durften.

Während der erste Archetyp, der Krieger, in seiner Natur etwas zutiefst männliches verkörpert ist der zweite Archetypus ebenso zutiefst weiblich in seinem Wesen. Wie immer bedeutet dies überhaupt nicht, mit diesem Archetyp kämest du nur in Berührung, wenn du eine Frau bist. (Ebenso wenig, wie der Archetyp des Kriegers einen nur etwas anginge, wenn man ein Mann sei.) Es kann allerdings sein, dass du, wenn du ein Mann bist, es schwieriger findest, diesen Archetyp in dir zu entdecken oder dich mit ihm anzufreunden.

Wie kann man sich dieser Wesenheit nähern, wie kann man sie in sich kennen lernen? Ein Zugangsweg geht über die Bilder. Lass vielleicht erst einmal das Titelbild dieses Beitrages und dann die unten stehende Bebilderung dieses Prinzips als Person, also das Bild "Die Geliebte" auf dich wirken. Das Unbewusste, die Seele, erfasst über die Bilder sofort und unmittelbar, worum es hier geht. Wenn wir es in Sprache ausdrücken wollen, ist der Prozess etwas langwieriger – und leider auch stärker mit der Gefahr von Missverständnissen verbunden. Wie gesagt: Schau erst einmal auf die Bilder.
Was sehen wir im Titelbild? Wir sehen die in der Mitte die süßen Früchte und ihren Genuss. Wir sehen im oberen Teil die Farbenpracht von Blüten und Landschaften, eben die blühenden Landschaften. Eine oft gewählte Verheißung. Im unteren Teil links sehen wir die Insignien des Reichtums: Gold, Geschmeide, eine Krone und einen güldenen Pokal. Diese Schätze werden durch einen Drachen bewacht. Wir sehen ebenso im unteren Teil links und rechts die Schätze der Erde, was aus den Wurzeln erwächst und geerntet, aber auch gehortet werden kann. Die Getreidesäcke, die Amphoren, vermutlich gefüllt mit Wein. Aber auch die mit Geld gefüllten Säcke, aus deren Mitte die Gebäude, die Technik, die Industrie einer städtischen Zivilisation entspringt. Kurz: Wie sehen die Verbindung von materiellem Reichtum und sinnlichem Genuss.
Was sehen wir auf der personifizierten Symbolon-Karte für dieses Prinzip? Wir sehen eine junge, eine attraktive Frau. Auch sie ist umgeben von den Insignien des sinnlichen Genusses, auch hier wieder die Früchte und der Wein, zu ihren Füßen das wohltemperierte Bad. Auch hier ist die Landschaft voller Blüten, Früchten und Farben, eine frühlingshafte Anmutung. Die junge Frau ist elegant gekleidet, geschmackvoll geschmückt und frisiert. Sie betrachtet sich in einem Spiegel, wohlgefällig. Eine Brust ist entblößt, eine starke erotische Konnotation durchzieht die Abbildung.

Soweit die Bilder. Auch bei diesem Archetyp werden wir uns als erstes damit befassen, wie wir uns die hier wirkenden Kräfte vorstellen können, wenn wir sie uns als Person vorstellen. Was ist dies für eine Person? Was treibt sie um? Aber auch die Personifizierung ist natürlich nur ein Bild, eine Vorstellung, etwas was wir vor unser geistiges Auge hinstellen, um es besser fassen zu können. Die Person verkörpert Prinzipien und Urkräfte. Dies ist die nächste Beschreibungsebene: Welche Aspekte des Lebens bringt dieser Archetyp zum Ausdruck und zur Geltung? Die Anregung für dich, liebe Leserin und lieber Leser, ist dabei: Womit gehe ich in Resonanz? Wie erlebe ich diese Prinzipien in meiner Innenwelt?

Auch dieser Archetyp hat eine jahreszeitliche Entsprechung, den Hochfrühling. Auch darüber wird zu sprechen sein. Ein weiterer – und für diesen Beitrag letzter – Zugang zu dieser inneren Person und den damit verbundenen Bestrebungen ist die Entwicklungsperspektive. Wie dient diese seelische Figur am Grunde meiner Seele dem Leben? Was bedeutet es, wenn ihre Bestrebungen gehemmt werden? Welche Kompensationsstrategien ergeben sich aus der Hemmung? Was bedeutet eine gesunde Entwicklung der Eigenschaften, die mit dieser seelischen Ur-Gestalt verbunden sind?

Der Archetyp „Die Sinnliche“ als Personifizierung

Die Bilder machen es sehr deutlich: Wir haben es hier mit einer Person zu tun, die durch und durch sinnlich, man könnte auch sagen genussfreudig ist. Es geht um die sinnlichen Eindrücke und den Genuss der Dinge in der materiellen Welt. Aber natürlich geht es nicht um beliebige Dinge, die Dinge müssen schön sein, sie müssen Wert haben. Die Dinge, mit denen ich mich umgebe, die ich besitzen muss, sollen über ihren Wert meinen Wert zum Ausdruck bringen. Die Dinge sagen: Ich bin wertvoll! Mein Selbst hat einen Wert, und zwar einen hohen. Etwas überspitzt: Ich bin ein Luxusgeschöpf! Ich bin attraktiv, ich bin es wert, begehrt zu werden. (Aber: Dessen muss ich mich immer wieder versichern, der Blick in den Spiegel ist notwendig.)
Hier wird etwas nicht ausgesprochen, aber angedeutet, dass wir ganz wertfrei betrachten müssen, sonst erfassen wir nicht, worum es hier geht. Wenn die Person sagt oder besser andeutet, ich bin wertvoll, ich bin ein Luxusgeschöpf, dann sagt sie auch: Mich muss man sich leisten können. Ja, ich stelle all die Freuden der Materie und all das Wertvolle zur Schau, um damit die dazu passenden Personen anzuziehen, in mein Leben zu ziehen. Ich habe all diese Dinge, ich habe einen erlesenen Geschmack – und wer mich haben will, sollte gut betucht sein. Sonst passt er nicht zu mir, nicht zu meinen Werten. (Noch einmal: Wir müssen das ohne Bewertung, vor allem ohne Abwertung betrachten.)
Mit der Attraktivität haben wir auch das Thema Erotik an Bord. Diese innere Gestalt sorgt nicht nur für – oder: sorgt sich nicht nur um – die Attraktivität im Allgemeinen, dass ich irgendwie gefalle, nein, es geht natürlich auch und nicht zu knapp um die sexuelle Attraktivität. Im Zeitalter der Dating-Apps und Dating-Plattformen gibt es ja auch die Redeweise vom sexuellen Marktwert(!), im Englischen "sexual market value", der sich in "matches", "likes" und Aufrufzahlen durchaus messen lässt. Diese innere Gestalt ist also nicht nur irgendwie sinnlich, sie ist auch zutiefst erotisch-sinnlich, der Bereich der Erotik wird von dieser Gestalt verwaltet, er gehört zu ihrem "Geschäftsgebiet". Aber auch hier: Dies wird angedeutet, durchaus deutlich angedeutet, aber natürlich nicht ausgesprochen. Wie ja überhaupt die Erotik die Andeutung ist, und nicht das Explizite. (Das Explizite wäre hier z. B. die Pornografie, und das ist ein ganz anderer Bereich als die Erotik.)

Die Personifizierung als "Die Sinnliche"

Die Personifizierung auf der Symbolon-Karte trägt den Titel "Die Geliebte". Ich habe ihr als Rollenbezeichnung im Theaterstück des Lebens die Bezeichnung "Die Sinnliche" gegeben. Aber das sind nur feine Unterschiede in der Akzentsetzung. Eine noch treffendere, allerdings veraltete und daher nicht sofort verständliche Bezeichnung wäre vielleicht "Die Kurtisane" oder noch älter "Die Hetäre".


Karte "Die Geliebte" gezeichnet von Thea Weller
Aus: Peter Orban, Ingrid Zinnel, Thea Weller: Symbolon. Das Spiel der Erinnerungen. [Kartenset und Erläuterungsbuch]. Kailash-Verlag 20063

Es geht hier also um die materiellen Güter und die Sinnlichkeit, den sinnlichen Genuss. Aber was leistet dieser Archetyp für das Leben? Er sichert.

Vergleichen wir dieses Grundmuster mit dem erstem Archetyp, dem Eroberer des Neulandes, dem Pionier, so können wir hier die notwendige Ergänzung sehen. Das gewonnene Neuland muss gesichert werden, es muss Besitz werden. Dazu muss ich Grenzen setzen, Zäune ziehen.
Erst wenn ich im neu gewonnenen Land mich verwurzeln kann, kann ich sagen: "Dies ist jetzt meins" oder auch "Dies ist jetzt meine Heimat". Der Archetyp sorgt also für die Konsolidierung des Neuen, er sichert den Bestand. Der erste Archetyp kann das nicht. Der muss nach jeder gewonnen Schlacht immer neu aufbrechen, den nächsten Horizont erkunden. Er kann nicht sesshaft werden. Dieser Archetyp kann das.

Erst durch diesen Archetyp können die Früchte des Erreichten gewonnen werden. Wir sind hier im Element Erde, hier werden wir bodenständig, hier wird das Erreichte und Gewonnene konserviert. Hier finden dann auch die Grenzsetzungen statt, die Unterscheidung zwischen Dein und Mein. Durch die offene Landschaft darf jeder latschen, mit der Markierung als "mein Besitz" kann ich bestimmen, wer in meinem Bereich Einlass erhält und wer nicht.

Natürlich erhält nur Zugang, wer zu mir passt, zu meinen Werten und meinem Lebensstil. Wenn der Krieger sagt "ich erobere" sagt diese Gestalt hier "ich besitze". My home is my castle heißt es im englischen. Erst mit der Abgrenzung und der Besitzsicherung ist der Genuss in Ruhe möglich.

Das Materielle dient also (auch) der Sicherung. Die Bevorratung mit materiellen Dingen verleiht mir die Stabilität gegen die Wechselfälle des Lebens. Und ja, auch das Hamstern und das Horten fällt in diese Domäne. Diese innere Gestalt hält gerne fest am einmal Erworbenen, sie trennt sich nicht so leicht von den Dingen. Auch hier erleben wir die Ergänzung zum ersten Archetyp. Der Eroberer und Abenteurer muss mit leichtem Gepäck reisen, er darf sich nicht zu sehr an die Dinge binden. Die Sinnliche als Archetyp hängt dagegen durchaus gerne ihr Herz an die Dinge, dass macht sie beständig aber natürlich auch weniger beweglich. Hier wird die Arbeit am Sesshaft-Werden geleistet, hier entstehen die Zivilisation, die Kultur und das Dauerhafte. Wie erwähnt entsteht auch hier der Besitz, etwas was hinterlassen und vererbt werden kann, was es in einer nomadischen Lebensweise nicht gibt und auch nur hinderlich wäre. Und noch etwas ist damit verbunden: Die Bequemlichkeit und auch die etablierten Gewohnheiten und Routinen.

Kommen wir noch einmal auf die Person – oder besser: die Personifikation des hier gemeinten Prinzips – zurück. Die Symbolon-Karte ist ja betitelt mit "Die Geliebte". Wir könnten aber auch sagen, dass es hier um "Das Geliebte" geht. Es geht um den Besitz und den Wohlstand, an dem ich hänge. Was ich als "meins" bezeichne, damit identifiziere ich mich auch. In gewisser Weise ist diese Person auch ihr Besitz. Es gab einmal eine Werbung für Geldanlagen, wo ein Mann einen anderen Mann beeindrucken will, in dem er Fotos auf dem Tisch aufblättert: "MEIN Auto, MEIN Boot, MEIN Haus, MEIN Pferd, MEIN ….(was auch immer)". Ja, das ist Besitzerstolz. Und es ist gleichzeitig auch kalkuliertes Eindrucks-Management. Der andere soll sehen: Dies alles habe ich. Dies alles habe ich erreicht. Dies sind die Früchte meiner Arbeit. (Oder eben meiner schlauen Anlagestrategie, wie die Werbung verheißt.) Auch die Redeweise im Volksmund "haste was, biste was" verweist auf diesen Zusammenhang. Ich bin, was ich habe. Deswegen ist das Haben wichtig. Nur wenn ich habe, und zwar viel habe, gelte ich etwas. Womit wir wieder beim Wert sind, beim Selbstwert, der hier zur Geltung kommt oder zumindest kommen soll.

Ja, natürlich ist dies auch ein Käfig, in dem man festsitzen kann, aber es ist eben ein goldener Käfig, ein schön anzuschauender Käfig, ein Käfig, in dem man es sich behaglich einrichten kann. So behaglich, dass man fast vergessen kann, in einem Käfig zu sitzen. In spirituellen Kreisen hat diese innere Person keinen guten Leumund – und doch kommt niemand ohne sie aus.

Die mit dem Archetyp verbundenen Wesenszüge und Energien

Wenden wir uns zusammenfassend noch einmal ein wenig ab von der Vorstellung einer Person und wenden wir uns stattdessen den Prinzipien und Energien zu, welche diese Person verkörpert.

Der Besitz

Es geht hier um den Besitz und um das Materielle, im günstigen Fall in Form von Wohlstand oder gar Reichtum. Aber: Hier ist nicht der abstrakte Reichtum gemeint in Form von Zahlen auf einem Konto. Nein, hier muss der Reichtum sich in konkreten Dingen ausdrücken, mit denen ich mich umgebe und die vor allem für andere sichtbar sind. Und die Art der Dinge ist hier wesentlich. Wenn ich mir Gemälde an die Wände meiner Wohnung hänge, ist es entscheidend, ob es sich um Heiligenbilder aus der Renaissance, französische Impressionisten oder abstrakte Kunst handelt.
Es reicht nicht, dass es wertvoll im Sinne von teuer ist. Es muss auch zu meinen Werten, meinem (Lebens)Stil, passen es muss mich ausdrücken. (Oder zumindest meine Vorlieben oder auch meine Bildung.)

Das Eigene / Der Selbstwert

Die Dinge, mit denen ich mich umgebe, meine Kleidung, meine Wohnungseinrichtung, mein Fahrzeug usw. müssen etwas über mich aussagen. Sie müssen ausstrahlen, was meine Individualität und Unverwechselbarkeit ausmacht. Die Dinge müssen davon sprechen, worauf ich Wert lege und was mir Wert (Selbstwert!) verleiht. Ich muss mich in meinen Dingen spiegeln können.

Die Attraktivität

Wenn die Dinge ausstrahlen, worin mein Wert besteht, machen sie mich attraktiv. Sie ziehen diejenigen Menschen in mein Leben, die mit meinen Werten kompatibel sind und halten die inkompatiblen Menschen auf Distanz. Die sexuelle Attraktivität ist ein Teil dieses Spiels – und dies gilt beileibe nicht nur für die Frauen.

Das Grenzen setzen

Der Besitz, die In-Besitz-Nahme der Materie bedeutet auch das scharfe setzten von Grenzen. Hier wird unterschieden, was ist meins und was ist deins. Hier wird auch die Grenze gesetzt, wer darf in diesem Raum "Bestimmer" sein.

Das Bewahren

In diesem Archetyp finden wir das Prinzip der Beständigkeit. Besitz hat nur Wert, wenn er von Dauer ist. Wir finden hier ein zutiefst konservatives Motiv. Dieses Prinzip (und damit die Teilperson in mir) arbeitet gegen den Verfall, so gut es nur geht. Von der Arbeit gegen den Verfall der körperlichen Attraktivität leben ganze Industrien, nicht nur die Kosmetikindustrie.

Das Weibliche

Das Weibliche in der Form der Sinnlichkeit ist ein aufnehmendes Prinzip, ist Yin, nicht Yang. Die Dinge in der materiellen Welt wirken über die Sinne auf mich ein, in diesem Prinzip nehme ich mit allen Sinnen auf. Ich setze mich den sinnlichen Einwirkungen mit der größtmöglichen Fläche aus. Hier gilt: Mehr ist mehr! Hier geht es um die Fülle. Am Rande sei vermerkt: Das aufnehmende Prinzip im Übermaß macht aus der Fülle die Völlerei. Die Betonung liegt jedenfalls auf dem Nehmen, nicht dem Geben, sie liegt auch mehr auf dem Eindruck als auf dem Ausdruck.

Der Jahreszeitliche Bezug dieses Archetyps

Auch bei diesem Archetyp finden wir eine Entsprechung zu einem bestimmten Punkt im Zyklus der Jahreszeiten. Es geht hier um den Hochfrühling, um die Zeit von etwa dem 20. April bis etwa dem 20. Mai. Der vorangegange Zeitraum markierte den Beginn des neuen Lebens, den ersten noch vereinzelten Durchbruch des frischen Grüns. Hier treten wir jetzt ein in die Fülle des neuen Lebens. Es blüht überall, nach und nach kleidet sich jeder Ast und jeder Strauch in ein neues Blättergewand. Die Fülle der Farben, Formen und Gerüche bietet dem Sehen, Riechen, Fühlen und Schmecken ein reiches Angebot. Und nicht zuletzt verheißt die Fülle der Blüten die Reichhaltigkeit der späteren Ernte.

Astrologische Entsprechung:

In der Astrologie entspricht dieser Archetypus dem 2. Haus, dem Tierkreiszeichen Stier und dem Planeten Venus.

Der Entwicklungspfad dieses Archetyps

Es ist leicht, sich über diesen Archetyp und seine konkrete Ausprägungsformen zu erheben, sie zu verachten. Man könnte zum Beispiel den Vorwurf der Eitelkeit gegen diese innere Person in Anschlag bringen, wo immer sie sich zeigt. Und doch haben wir gesehen, wir brauchen diese innere Person. Ohne sie gibt es keinen Beständigkeit und ohne sie gilt für jede Eroberung: Wie gewonnen, so zerronnen.

Wir benötigen die Fähigkeit zur Abgrenzung, zur Unterscheidung zwischen Ich und Du, zwischen meins und deins. Und diese Grenzziehung wird von dieser inneren Person verwaltet. Wir brauchen als inkarnierte (verkörperte) Seelenwesen diese innere Person, um im eigenen Körper mit allen seinen Vorzügen und Mängeln wirklich uns heimisch einzuwohnen. Und wir benötigen auch in einem gewissen Maße den Besitz, die Sicherheit (die durchaus körperliche Sicherheit), um in der Welt der Materie heimisch werden zu können, uns eine Heimstatt schaffen zu können. Und wir müssen den angeeigneten Besitz auch bewahren können. Es bedarf im Leben auch der Entwicklung einer Genussfähigkeit, der Entwicklung von Lebensfreude, ohne die alles schal wird.
Und nicht zuletzt dient diese innere Person dem Leben, dem Fortbestand des Lebens, der ohne Sexualität nicht denkbar ist. Zwar gehört die Sexualität selber nicht zum Zuständigkeitsbereich dieses Archetypen, dafür sind andere Urgestalten zuständig, die wir noch kennen lernen werden. Aber diese innere Person verwaltet den Bereich der Erotik, der Attraktivität und der Anziehung als notwendige Hinführung zur Sexualität.

Die Hemmung der Impulse dieses Archetyps

Die Hemmung der Energien dieses Archetyps führen zu Abgrenzungsschwierigkeiten und damit zu einem schwachen Ich-Gefühl, zu einer mangelhaften Ausformung der eigenen Identität und des Selbstwertes. Auch können wir dann kein gutes Verhältnis zum materiellen Besitz und zur Sicherung der Lebensgrundlagen entwickeln, es droht Armut und Besitzlosigkeit. Wir können dann nicht mit unseren gegebenen Talenten wuchern, wozu uns ein Gleichnis im neuen Testament durchaus auffordert. Und eine wenig entwickelte Genussfähigkeit geht nicht nur zu Lasten der Lebensfreude, wer nicht genießen kann, wird auch für andere oft ungenießbar.

Die Kompensation der defizitären Hemmung

Nicht selten werden die Einschränkungen durch die gehemmten Impulse dieses Archetyps in ungesunder Weise kompensiert. Hier finden wir eine übersteigerte Form des Luxus oder die Verschwendung. Auch bestimmte Formen des Reichtums wären hier zu nennen, die man als exzessiven oder obszönen Reichtum bezeichnen könnte. Gemeint ist die Form des Reichtums, bei der es nicht um die damit möglichen sinnlichen Genüsse geht, sondern um den Reichtum um des Reichtums willen. Wenn es nur darum geht, reicher zu sein als jemand anderes, höher platziert zu sein in der entsprechenden Forbes-Liste als alle anderen, dann haben wir es mit der ungesunden Kompensation zu tun. Auch die Völlerei erwähnten wir bereits, diese Fehlentwicklung der Genussfähigkeit tötet den wirklichen Genuss mehr, also unsere Sinne und damit die Sinnesfreuden zu verfeinern und zu intensivieren.

Die gesunde Entwicklung der archetypischen Energien

Die gesunde und entwicklungsfördernde Entfaltung dieses Archetyps zeigt sich in einer natürlichen Ich-Stärke und in einem klaren Selbstbewusstsein. Sich seiner selbst bewusst zu sein bedeutet, ich weiß was meine unverwechselbare Individualität ausmacht. Ich weiß dann, was zu mir passt und was nicht zu mir passt. Mit diesem gefestigten Ich muss ich mich weder selber überhöhen noch anderen Menschen abwerten noch fremden Maßstäben hinterherhecheln.

Wenn ich wirklich weiß, wer ich bin und welche Werte wirklich meine eigenen sind, dann bin ich auch nicht mehr steuerbar durch fremde Vorstellungsbilder, durch Ideale wie ich sein müsste, um attraktiv zu und etwas zu gelten.

Aber wer kann das schon von sich sagen …

Bild: "Wider von Mabel Amver (Pixabay Inhaltslizenz)

Der erste Archetyp: Der Krieger / Das Neugeborene

Vorbemerkung: Dieser Text ist Teil einer 12-teiligen Serie über bestimmte Gestalten am Urgrund einer jeden menschlichen Seele, die wir in der Psychologie mit der Bezeichnung „Archetyp“ belegen. In jedem der 12 Teile wird jeweils einer der 12 wesentlichen Archetypen vorgestellt. Diese Gestalten gibt es bei jedem Menschen als innere Personen. Allerdings spielt nicht jede einzelne Gestalt in jedem Leben eine bedeutende Rolle. In Schauspiel meines Lebens gibt es natürlich Hauptrollen, aber eben auch Nebenrollen und Komparsen. Manche dieser kollektiven Urgestalten in mir kenne ich bis zu einem gewissen Grade. Andere sind mir völlig unbekannt und wenn sie dann doch einmal kurz in einer Szene auftauchen, bin ich überrascht.   

Manchmal erweist es sich in Familienaufstellungen als sinnvoll oder sogar notwendig, einen der Archetypen über Stellvertreter aufzustellen. Entweder, weil das Thema eng mit diesem Archetypus verbunden ist oder weil bei der Person, um die es geht, dieser Archetypus erkannbar dominant im Vordergrund steht. 
Die Beschreibungen des jeweiligen Archetyps sollen dich, liebe Leserin / lieber Leser, anregen, diese Gestalt in dir zu entdecken und vielleicht auch, mit ihr Kontakt aufzunehmen und in einen Austausch zu treten.

Einen Artikel darüber, was Archetypen allgemein sind und wie sie in unserer Seele wirken, findest du hier. Das dort gesagte gilt übergreifend für
alle Archetypen.

Widmung:

Diese Artikelserie ist meinem großen Lehrer Peter Orban gewidmet, der im Oktober des vergangenen Jahres verstorben ist. Lieber Peter, alles was ich über Archetypen meine verstanden zu haben, habe ich von dir. Wenn ich jetzt mein Verständnis der Archetypen beschreibe, möge dies ein Indiz dafür sein, dass deine Saat aufgegangen ist. Ein wenig lebst du weiter in denen, die von dir lernen durften.

Den Archetypen kann man sich unterschiedlich nähern in der Beschreibung. Ich mache es hier in dieser Artikelserie über mehrere Wege. Einerseits haben wir die Bilder, welche den Archetyp in eine gestaltete und erkennbare Form bringen. Die Bilder werden in der Tiefe von der Seele sofort verstanden. Mehr auf den Verstand zielen die Texte. Hier werde ich einerseits beschreiben, wie wir uns die Verkörperung des Archetyps als Person vorstellen könnten. Was für eine Art Mensch wäre dies, was ist das Anliegen dieser Person, was treibt sie an? Zum anderen werde ich textliche auf einige Wesenszüge und Qualitäten des Archetyps eingehen, besonders dort, wo sie leicht missverstanden werden könnten. Und Abschließend wird der Archetyp in den Zyklus der Jahreszeiten eingeordnet verbunden mit einigen Hinweisen auf Heilungswege, welche mit diesem Archetyp verbunden sind.

Der Archetyp „Der Krieger / Das Neugeborene“ als Personifizierung

Die Artikelserie zu den 12 wesentlichen Archetypen startet – wie sollte es anders sein – als Erstes mit einem „Ur-Typus“, der genau diese Qualität des Beginns, des Neuen, der Initiative und des Anfangs beinhaltet. In der Betitelung habe ich diese Deutungsebene – wir stellen uns den Typus als Person vor, damit wir eine lebendige Vorstellung bekommen – doppelt benannt, nämlich als Krieger und als das Neugeborene. Hier könnte eine doppelte Irritation beim Lesen auftreten. Einerseits mag man sich fragen, wie die Gestalten des Kriegers und des Neugeborenen zusammen passen. Und zum zweiten mag eben die Gestalt des Kriegers für viele eine sein, die durchaus sehr ambivalente Gefühle auslöst. Dies gilt es also zu erklären.

Die Personifizierung als Krieger

Der Krieger steht für den Mut, zu kämpfen. Sei es, dass um die Wahrung der Grenzen und den Schutz der Meinigen gekämpft wird, sei es, dass es um die Gewinnung und Aneignung von Neuland gekämpft wird.

Karte "Der Krieger" gezeichnet von Thea Weller
Aus: Peter Orban, Ingrid Zinnel, Thea Weller: Symbolon. Das Spiel der Erinnerungen. [Kartenset und Erläuterungsbuch]. Kailash-Verlag 20063

Die Grundeigenschaften sind Entschiedenheit und Entschlossenheit, der rückhaltlose Einsatz aller Kräfte. Wenn dieser Archetyp in uns auftaucht, ist alles Zögern, alles Bedenken aber auch alle Furcht hinter uns gelassen. Das Wesen des Kriegers ist die Tat, damit auch die Tatkräftigkeit. Hier bin ich ganz. Und ich bin ganz in der Tat aufgehend. Es gibt nichts anderes als die Tat. Hier bin ich ganz in meiner Kraft, in meiner vollen Größe und im Vollbesitz meiner Fähigkeiten. Hier wird alles gewagt, alles eingesetzt, worüber ich verfügen kann. Das Ergebnis ist unsicher. Hier geht es um buchstäblich Alles. Es geht um Leben oder Tod, um Bestehen oder Untergehen. Man könnte auch sagen: Es geht um das reine Sein. Hier muss ich mich beweisen, wer ich wirklich bin. Der Krieger atmet die Tat, er ist ein Täter durch und durch. (Auch hier achte man auf die emotionale Assoziation, die mit dem Wort „Täter“ verbunden ist.)

Nun liegt ja im Wortfeld des Kriegers auch der Krieg. Hier könnte eine Irritation liegen, warum man sich vielleicht mit diesem Archetypus nicht so recht anfreunden mag. Wir verbinden – in Deutschland ganz besonders – mit Krieg natürlich auch Leid und Zerstörung. Der Krieger wäre demnach der Bringer von Leid und Zerstörung.

Hier ist aber etwas ganz wichtig zu verstehen, sonst erfassen wir das Wesen dieser inneren Gestalt nicht. Der Krieger ist nicht der Soldat. Der Soldat ist ein Mensch, der freiwillig oder gezwungen in einer Armee als Organisation das „Kriegshandwerk“ ausübt. Diese Armeen dienen bestimmten, meist politischen, Zwecksetzungen. Der Soldat dient diesen Zwecken und Interessengruppen, manchmal halbherzig, manchmal fanatisch und verblendet, manchmal auch verroht.

Der Krieger dient keinen fremden Zwecken. Der Krieger kämpft nur für das Seine. Der Krieger kämpft auch nicht, weil er den Kampf liebt. Er kämpft nur, wenn er muss, dann aber vollständig. Er ist nicht geleitet durch Hass auf das, wogegen er kämpft, ihn leitet die Notwendigkeit. Eine Not muss gewendet werden. Die Bücher von Carlos Castaneda erzählen von den Unterweisungen durch den Schamanen Don Juan, mit dem Ziel den (inneren) Krieger in Carlos Castaneda zu entwickeln – nicht um Kriege zu führen, sondern um „den Weg des Herzens“ gehen zu können. Die Kämpfe, die hier geführt werden, sind im Wesentlichen die Kämpfe mit den inneren Widersachern. Es geht um den Kampf mit allem, was mich davon abhält, das Leben vollständig anzunehmen, mit allen Geheimnissen und Gefahren. An einer Stelle lässt Castaneda seinen Schamanen-Lehrer sagen: Der Krieger sei sich der ihm unergründlichen Geheimnisse bewusst und sich auch seiner Pflicht bewusst, wenigstens zu versuchen, diese zu enträtseln. So könne er seinen rechtmäßigen Platz unter diesen Geheimnissen einnehmen und sich selbst als ein solches betrachten. Eine ähnliche Konnotation des Kriegers finden wir auch in vielen Schulen der Kampfkunst und so wäre die Personifikation des Kriegers zu verstehen, wenn wir uns dem Wirken dieses Archetyps in uns nähern wollen.

Die Personifizierung als das Neugeborene

Warum habe ich aber als zweite Personifizierung hier noch das neugeborene Baby genannt? Wie passt dies in das Bild. Das Neugeborene verkörpert im wortwörtlichen Sinne den Wesenszug der Unmittelbarkeit. Das Neugeborene erlebt sich als Körper und mit allem, was ihm widerfährt, vollständig. Wenn das Baby Hunger verspürt, dann ist es in dem Moment dieser Hunger – und nichts anderes. Das Baby erlebt sich auch noch nicht getrennt von der (Um)Welt, die es umgibt, es ist noch eins mit der Welt, mit seiner Welt. Es gibt noch kein „Du“, weil noch gar kein „Ich“ entwickelt ist. Das Baby ist reine körperliche Existenz. Alles ist, wie es ist – und das Baby reagiert unmittelbar darauf. Es gibt hier noch keine Gedanken, keine Bewertungen, keine Pläne. Es gibt nur das Sein, in Einheit mit allem, was mich umgibt. Hier ist noch kein Ego.

Diese Unmittelbarkeit und dieses Eins-Sein als reines Sein und eben auch vor allem das Sein als rein körperliche Existenz, als Verkörperung, das ist etwas, was das Neugeborene noch nicht verloren hat, es ist das Ursprüngliche. Das Baby wird im Laufe seiner Entwicklung diese Einheit verlieren müssen, es geht nicht anders. Die Aufgabe des Kriegers ist es dann, ab einem bestimmten Punkt der Entwicklung, wieder zu dieser Einheit zurückzufinden. Das ist der Kampf, den der Krieger führt. Diesen Weg gibt es nicht, er muss im Beschreiten des Weges erst geschaffen werden. Über den Weg wissen wir nur eines: Er führt nach Hause.

Die mit dem Archetyp verbundenen Wesenszüge und Energien

Um uns dieser Wesenheit in uns noch weiter zu nähern, seien noch wichtige Qualitäten dieses Archetyps beschrieben.

Die Furchtlosigkeit / Das Wagnis

Man könnte versucht sein, eine Qualität des Kriegers als Mut zu beschreiben. Mit schein allerdings, Mut trifft es nicht ganz. Mut benötige ich, wenn es gilt, eine Angst oder eine Furcht zu überwinden. Der Krieger erwacht aber genau betrachtet erst, wenn der Mut seine Arbeit geleistet hat. Hier habe ich die Furcht hinter mir gelassen, hier gibt es nur noch die Tat, die körperliche Betätigung, das Anspannen aller Kräfte. In der Tat gibt es keinen Platz für einen Gedanken, also auch keinen Gedanken an die negativen Folgen der Tat. Ebenso wenig gibt es einen Gedanken an das, was es im Kampf oder in der Tat zu gewinnen gibt. Das mag vor der Tat eine Rolle spielen und auch nach der Tat wieder auftauchen. (Aber da wirkt dann nicht mehr die innere Gestalt des Kriegers, da hat dann ein anderer Archetyp das Ruder übernommen.)

Die Absichtslosigkeit / Die Gleichgültigkeit

Ganz ähnlich wie beim Wagnis ist es so: Wenn der innere Krieger am Werke ist, gibt es keine Absicht. Das erscheint vielleicht erst einmal kaum glaubhaft. Möchte der Krieger den nicht den Kampf gewinnen? Ist das keine Absicht? Natürlich ist das eine Absicht. Aber: Die Absicht wirkt nur, solange es gilt, den Krieger auf den Plan zu rufen. Hat der Kampf einmal begonnen, gibt es nur noch den Kampf und das Bestehen in ihm. Die Absicht verschwindet hier, sie würde nur vom gegenwärtigen Moment und der gerade nötigen Bewegung ablenken. Es ist wie bei der Zen-Übung des Bogenschießens: Wer im Moment, wo der Pfeil von der Spannung des Bogens entlassen wird, an das Ziel denkt, wird das Ziel verfehlen. (Zumindest das Ziel der Zen-Übung – selbst wenn der Pfeil treffen sollte.) Und in diesem Sinn ist der Krieger auch Gleichgültig. Mit Gleichgültigkeit ist hier nicht „Wurschtigkeit“ gemeint. Sondern: Im Kampf denke ich nicht an den Ausgang, nicht an den möglichen Gewinn und den möglichen Verlust. Auch dies würde nur Ablenken von dem, was zu tun ist. Es ist Gleichgültigkeit im wortwörtlichen Sinne: Jeder Ausgang des Kampfes ist gleichermaßen gültig.

Die Rücksichtslosigkeit

Auch hier mag die erste Assoziation negativ belegt sein. Es ist aber im reinen Wortsinne gemeint. Der Krieger schaut nicht zurück. Er schaut nur nach vorne, was vor ihm liegt. Was mich überhaupt hier hin gebracht hat, dass ich jetzt kämpfe oder dass sich jetzt hier ein Gegner zeigt, ist bedeutungslos. Es gibt nur das große JETZT. Es gibt hier kein Bedauern von vergangenen Niederlagen oder Verfehlungen und auch keine Erinnerung an vergangenen Schmerzen. Wenn es sie gibt, bin ich nicht im Modus des Kriegers.

Allerdings, so viel muss gesagt werden: Natürlich verweist unsere negative Assoziation mit dem Begriff „Rücksichtslosigkeit“ auch auf die Schattenseite des Wirkens des Archetyp Kriegers in uns. Der Krieger hat tatsächlich keinen Blick für die Opfer, die seinen Weg säumen. Es gibt hier kein Bedauern und keine Reue und keine Entschuldigung. Ja, wir werten das negativ, aber das ist die Position des Zuschauers von der Seite oder die Position der Analyse im Nachhinein, die Situation des Re-Flektierens. Dem Krieger ist dies fremd, in seiner Welt gibt es das alles nicht. Es gibt nur ihn, den Gegner und den Kampf. Und im Kampf geht alles auf.

Die Selbstlosigkeit

Wenn im Kampf alles aufgeht, verschwindet auch das Selbst. Nebenbei gesagt: Auch der Gegner verschwindet. Es gibt ihn nicht mehr als Gegner, es gibt ihn nur als zu meisternde Situation. Und so verschmelze ich auch mit dem Gegner, wenn ich in der Herausforderung aufgehe. Der Gegner ist nicht mehr „das Anderer“, er ist Teil von mir, er ist Teil meiner Herausforderung. Aber – und hier wird es paradox – auch dieses Ich gibt es in dem Moment nicht mehr. Es gibt nur noch die Tat, die Betätigung. Auch dies ist Teil der so widergewonnen Einheit mit den Umständen, das Selbst ist nicht mehr spürbar, nicht mehr erkennbar. Ja, auch dies kann eine Schattenseite des Archetyps Krieger sein.

Das ewig Neue

Für den Krieger ist alles, was er tut, neu und frisch und noch nie dagewesen. Ja, natürlich hat er sich vorbereitet, hat geübt oder trainiert und hat Erfahrungen in vergangenen Kämpfen gesammelt. In der jetzigen Situation aber muss er das alles vergessen. Keine Herausforderung, kein Kampf ist genau gleich. Es ist jedes Mal (auch) anders und so immer neu und so wird es auch erlebt: Immer wieder neu und einzigartig. Der Krieger kann sich hier auf nichts verlassen, auf keine eigefleischten Routinen, auf nichts Gelerntes und auf erworbenen Meriten. Nur im Feld des Unbekannten kann das Neuland gewonnen werden. Auf dieses Unbekannte muss der Krieger sich einlassen und er muss alles scheinbar Bekannte als Unbekanntes ansehen. Jede Routine ist hier trügerisch und mit der Gefahr des Verderbens verbunden.

Wir könnten auch sagen: Allem wohnt die Energie des Anfangs inne, die Qualität des Beginnens oder eben auch Neu-Beginnens. Im Augenblick des Beginnens ist noch alles möglich. „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ lautet eine Gedichtzeile von Hermann Hesse. Der Krieger ist der Zauberer des Beginnens. Er ist der Gegenpol nicht nur zum Zögern und Zaudern, sondern auch der Gegenpol der langweiligen Routine.

Das Männliche

Der Archetyp des Kriegers ist zutiefst männlich. Hier sind die Auseinandersetzung und das Kräftemessen positiv besetzt. Hier finden wir die Entschlusskraft, die Tatkraft, die Initiative, ja die Kraft überhaupt. Hier soll und muss etwas bewegt und überwunden werden. Hier wird auch etwas erobert und gewonnen, wie eben auch der Mann seine Frau erst einmal für sich gewinnen muss, eben tatkräftig, wie sprechen hier auch vom Erobern. Hier finden wir die Qualität des Eindringens, die Überwindung von Hindernissen. Ebenso zeigen sich hier die Qualitäten von Kraft und Härte.

Wir finden diese Prinzipien in der Sexualität recht schön anschaulich vor. Der männliche (eregierte) Penis dringt in die Frau ein. Dazu werden Hindernisse, möglicherweise auch Hemmungen, überwunden. Ja, in einer spezifischen Ausprägungsform bedeutet dies Vergewaltigung. Auch dies liegt im Möglichkeitsraum der männlichen Sexualität.     
Oder auch wenn wir an die Prinzipien Kraft und Härte denken: Das Hartwerden ist es, was den Penis vom Phallus unterscheidet. Der Volksmund spricht im Deutschen hier auch von der Manneskraft.        
Und auch die männliche Seite der Fruchtbarkeit ist eben mit dem hart werden des Penis und dem Eindringen in die Frau verbunden.

Wenn dieser Archetypus deutlich männliche Züge trägt, bedeutet dies natürlich nicht, nur Männer hätten diesen Archetyp in sich, als Teilpersönlichkeit sozusagen. Auch bei jeder Frau gibt es im Lebensfilm diese Position auf der Besetzungsliste der inneren Personen. Es kann allerdings sein, dass man sich als Frau etwas schwerer tut, sich mit dieser inneren Gestalt anzufreunden.

Der Jahreszeitliche Bezug dieses Archetyps – Heilwege

Dem Archetyp „Krieger / Neugeborenes“ entspricht im Jahreszyklus der Frühlingsbeginn. Hier beginnt der Kreislauf des Lebens neu. Hier bricht sich die Vegetation neu durch in die Sichtbarkeit, die Pflanzen sprießen aus dem Boden, die neuen Blätter der Bäume brechen aus dem bisher kahlen Geäst hervor. Aus Sicht der Zyklik im Jahresverlauf beginnt hier das Jahr und nicht am 1. Januar. In einem Kinderlied heißt es: „Im Märzen der Bauer / die Rößlein anspannt.“ Im landwirtschaftlichen Bereich beginnt also hier das wieder tätig werden, das Tatprinzip. Mit dem (astronomischen) Frühlingsanfang, dem Punkt der Tag- und Nachtgleiche, beginnt die Zeit, in welcher das aktive Prinzip (Tag) gegenüber dem passiven oder ruhenden Prinzip (Nacht) das Übergewicht besitzt. Die Natur steht hier im Zeichen der Erneuerung.

Astrologische Entsprechung:

In der Astrologie entspricht dieser Archetypus dem 1. Haus, dem Tierkreiszeichen Widder und dem Planeten (und Kriegsgott) Mars.

Entsprechung in den „12 Toren der Heilung“

In dem Buch „Die zwölf Tore der Heilung“ von Regina Sonnenschmidt und Harald Knauss1 werden die 12 Archetypen und ihre Jahreszeiten mit 12 Heilungswegen in Beziehung gesetzt. Ich gebe hier einige von den Autoren genannte Aspekte wieder, die zu dieser Jahreszeit, diesem Archetyp und eben diesem „Tor der Heilung“ gehören.

Bei diesem Archetyp und der zugehörigen Jahreszeit von ca. 20. März bis ca. 20 April geht es um Tatkraft, Lebenswillen und Selbständigkeit. Im gesundheitlichen Bereich ist als Organ hier die Galle besonders angesprochen. Beeinträchtigt wird die Tatkraft durch ständige Erschöpfung und Nervosität. Als Mittel ist hier das Schüßlersalz Kalium Phosphoricum (Nr. 5) besonders wirksam.

Für den mit diesem Archetypus verbundenen Heilungsweg ist regelmäßiger Aufenthalt an der frischen Luft günstig.

Als Affirmationen passen zu dieser Zeitqualität schlagen die Autoren von "Die zwölf Tore der Heilung die folgenden Sätze:

  • Ich nehme mein Leben in seiner ganzen Fülle an
  • Ich sage Ja zum Leben
  • Ich bin begeistert vom Leben, von mir und meinen Fähigkeiten
  • Mein Streben richtet sich auf eine positive Zukunft
  • Ich finde den Rhythmus meines Lebens

Die Autoren empfehlen dazu auch zwei passende Energieübungen vor. Empfohlen wird, diese Übungen im Freien auszuführen.

1. Das staunende „A“

  • Stehen Sie fest auf der Erde. Atmen Sie gleichmäßig ein und aus.
  • Spüren Sie die Kraft, die aus der Erde aufsteigt. Ist dieses Gefühl stark genug, machen Sie mit dem linken Fuß einen Schritt nach vorne.
  • Heben Sie dabei die Arme an und führen Sie die Handflächen auf Brusthöhe nach vorne, als wollten Sie etwas wegschieben.
  • Der linke Arm ist dabei etwas höher als der rechte. Während dieser Armbewegung lassen Sie ein „FA“ mit einem langgezogenen „A“ ertönen.
  • Beim Einatmen senken Sie die Arme wieder, atmen dann aus und wieder ein und beginnen erneut mit der Lautgebung von „FA“.
  • Dabei heben sich die Arme und schieben mit den Handflächen (links höher als rechts) die Energie nach vorne.
  • Wiederholen Sie die Übung sieben Mal. Sie werden eine gute Erdung spüren.

2. Die Ka-Rune

  • Stehen Sie bequem, die Arme locker hängen lassen.
  • Bringen Sie mit einem Schwung die Hände nach oben, wobei beide Arme die Form des Y nachvollziehen. Der Blick geht dabei nach oben, dem Himmel entgegen. Am besten gelingt die Übung, wenn Sie sie direkt als Begrüßung der Sonne durchführen.
  • Gleichzeitig mit den Armen bewegen Sie den rechten Fuß nach vorne und seitwärts hoch.
  • Dann dieselbe Bewegung nochmals mit dem linken Fuß.
  • Jedes Mal, wenn Sie die Arme hoch werfen, können Sie den freudigen, lebensfrohen Laut „Ka“ ausstoßen, oder noch besser ein „Juchhu“ oder „Jippie“.
  1. Sonnenschmidt, R. & Knauss, H. (2005): Die zwölf Tore der Heilung. Das Spiel der Kräfte im Jahresverlauf. Berlin: Verlag Homöopathie und Symbol. ↩︎

Familienaufstellungen und die „Nachsorge“

Bei Familienaufstellungen geht es oft um sehr existentielle Themen, um Dinge, die im wahrsten Sinne mit Leben und Tod zu tun haben. Zumindest geht es fast immer auch um die Grundbedingung des Lebens, wer mich sozusagen ins Leben gerufen hat und bei wem ich diese Lebensreise begonnen habe, wo ich also meine frühesten Eindrücke und Prägungen erfahren habe.

Mitunter sind Menschen in einer Aufstellung emotional sehr bewegt. Dies kann auch dann passieren, wenn ich „nur“ als Stellvertreter an einer Aufstellung teilnehme, wenn es also gar nicht meine eigenen Themen geht. (Wobei man anmerken könnte: Da die Themen von Aufstellungen in den meisten Fälle allgemein menschliche Themen sind, gibt es oft eine gewisse Resonanz, auch wenn meine Umstände etwas anders gelagert sind.) Aber besonders bei den Personen, für die eine Aufstellung gemacht wird, kann es emotional sehr intensiv sein.

Es kommt daher mitunter eine Frage auf, die mir als Leiter von Familienaufstellungen schon gelegentlich gestellt wurde: Was passiert, wenn die Erlebnisse in einer Aufstellung emotional zu überwältigend sind? Wenn in einer Person etwas innerlich angerührt wird, was sie nicht verarbeiten kann? Wie kann so etwas aufgefangen werden und gibt es die Möglichkeit, sich hier im Nachgang einer Aufstellung noch weiter unterstützen zu lassen.

In eine ähnliche Richtung geht auch eine Kritik an der Methode der Familienaufstellung, die mitunter geäußert wird. Die Methode sei sogar gefährlich sei, weil insbesondere bei labilen Personen Zustände ausgelöst werden können, die dann nicht aufgefangen werden können bzw. mit denen die Klienten dann alleine gelassen werden. Es könne vorkommen – so die Kritik – dass es Menschen nach einer Familienaufstellung schlechter gehe als vorher.

Ich selber handhabe es so, dass ich (fast möchte ich sagen: natürlich) zur Verfügung stehe, falls jemand im Nachgang zu einer Familienaufstellung einen Beratungs- oder Unterstützungsbedarf hat.         
Auf der anderen Seite habe ich es selten erlebt, dass ein solcher Bedarf entsteht durch eine Familienaufstellung. Nicht, dass es gar nicht vorkäme, aber doch relativ selten. Die Tatsache, dass jemand emotional sehr bewegt ist in einer Aufstellung, heißt auch nicht zwingend, dass hier das Verarbeitungsvermögen der Person überfordert wäre.

Andererseits will ich weder die Befürchtung, die vielleicht mitunter gehegt wird noch die erwähnte generelle Kritik an der Methode hier auf die leichte Schulter nehmen. Ja, es kann vorkommen, dass der Verlauf einer Familienaufstellung eine Person in ihrer emotionalen Regulation überfordert. Und es kommt sicherlich auch vor, dass die Leitung einer Aufstellung nicht genügend umsichtig und nicht mit dem nötigen Einfühlungsvermögen erfolgt.

Warum verläuft es in den meisten Fällen gut?

Ich will hier einige Gedanken und Eindrücke anbringen, die vielleicht ein wenig erklären mögen, warum die mitunter befürchtete Überforderung durch das, was sich in einer Aufstellung zeigt, meist nicht eintritt.

Einerseits wäre hier zu erwähnen, dass eine starke emotionale Bewegung in einer Aufstellung, wenn es etwa zu heftigem Weinen oder Schluchzen kommt, nicht bedeuten muss, dass eine Person, welche solche starken emotionalen Bewegungen erfährt, in diesem verloren geht. Nach meinem Eindruck ist es in den allermeisten Fällen eher so, dass die Vermeidung eines emotional-berührt-Seins eher ein Problem aufrecht erhält. Dagegen ist das Durchgehen durch eine heftige Emotion tendenziell eher die Lösung. Nach dem Durchleben stellt sich oft eine gewisse Klarheit ein, mitunter auch ein innerer Friede. Aber natürlich nur unter der Voraussetzung, dass die Person, welche diese Gefühlslandschaften durchschreitet, sich dabei unterstützt und angenommen fühlt in der Begleitung. Was die heftigen Emotionen angeht, könnte man vielleicht sagen (so als Grundregel): Der Weg hindurch ist der Weg hinaus.

Aber noch etwas anderes spielt hier eine Rolle, was etwas schwerer greifbar ist. Wir sprechen ja im Rahmen der Familienaufstellungen oft von einem „wissenden Feld“. Dieses Informationsfeld, welches zwar spürbar, aber schwer zu beschreiben ist, entsteht durch die Aufstellung von Personen und Stellvertretern im Raum. Manchmal braucht es ein paar Minuten, bis sich das Feld entwickelt. Wenn sich das Feld aber einmal entwickelt hat, treibt dieses „wissende Feld“ die Entwicklung der Aufstellung voran. Nicht selten entwickelt sich eine Aufstellung dann in eine Richtung, die man vorher nicht vermuten oder sich vorstellen könnte.

Mir scheint es nun so zu sein, wenn man sich den Hinweisen aus diesem „wissenden Feld“ überlässt und seinen Hinweisen folgt, dann wird man geführt. Man wird geführt von einer größeren Intelligenz, die viel besser darum weiß, was gerade im Moment wichtig ist aber eben auch, wie viel einer Person zumutbar ist. Man könnte auch sagen: Hier wirkt eine Weisheit, die wir nicht wirklich erklären können. Wenn wir es schaffen, uns dem Feld und den Hinweisen, die aus dem Feld kommen, ganz zu überlassen, dann sorgt das Feld auch für eine Sicherheit. Dazu muss man allerdings seine Vorstellungen und Annahmen und manchmal auch seine Vorurteile für die Aufstellung hinten anstellen und stattdessen wach und aufmerksam auf die Hinweise auf dem Feld achten.

Dies gilt natürlich zuallererst für die Leitung der Aufstellung. Hier bedarf es der Bereitschaft, sich auch in der Leitung dem Prozess anzuvertrauen – ohne zu wissen, worauf es hinauslaufen wird.         
Wenn dies gelingt, werden alle Beteiligten geführt von einer Weisheit, die um die Grenzen des gerade Möglichen weiß und diese Grenzen nicht überschreitet.

Mir scheint, gefährlich kann es dann werden, wenn jemand – insbesondere in der Rolle der Leitung einer Aufstellung – etwas Bestimmtes unbedingt erreichen möchte. Dann, so mein Eindruck, verweigert sich das „wissende Feld“.

Anmerkung für die Leser / Leserinnen des letzten Blogbeitrages

Ich hatte im letzten Blogbeitrag in sehr allgemeiner Form über Archetypen in einer Aufstellung geschrieben. Ich hatte dort angekündigt, dass ich in den 12 Monaten des Jahres 2025 jeweils einen Beitrag zu einem der 12 großen Archetypen schreiben würde. Gemäß dieser Ankündigung wäre dieser Januar-Beitrag dann dem ersten Archetyp gewidmet.

Eine Kollegin hat mich allerdings – sehr zu recht, wie mir dann auffiel – darauf hingewiesen, dass die 12 Archetypen einen Zyklus aufweisen, der mit der Jahreszyklik korrespondiert. Und diese Jahreszyklik, um die es hier geht, beginnt nicht mit dem 1. Januar eines Jahres, sondern mit dem Frühlingsbeginn im März.

Ich habe mich daher entschieden, die Serie von 12 Blogbeiträgen zu den 12 großen Archetypen in der menschlichen Seele erst im März beginnen zu lassen, also mit dem übernächsten Blog-Beitrag. Dadurch ergeben sich die Beschreibungen der 12 Archetypen passend zu der damit korrespondierenden Jahreszeit.

Gestalten am Urgrund der Seele

Wenn man sich mit der Seele beschäftigt, sei es zum Zwecke der Selbsterkenntnis, sei es zur Lösung drängender eigener Probleme im Lebensvollzug, sei es im Rahmen einer beratenden oder helfenden Tätigkeit, bei der man anderen Menschen bei der Lösung solcher Lebensprobleme unterstützt oder begleitet, dann bekommt man es mit einer besonderen Situation zu tun. Die Besonderheit liegt darin, wenn wir beschreiben wollen, womit wir es da zu tun haben, bleibt immer eine gewisse Unschärfe. Und: Es sagt sich nicht so leicht. Das liegt weniger daran, dass der Gegenstand komplex oder kompliziert wäre. Das ist manchmal der Fall, manchmal aber auch nicht. Die Schwierigkeit liegt eher darin, dass er – der Gegenstand der Betrachtung – sich der verbalen Beschreibung immer wieder entzieht. Er lässt sich nicht wirklich definieren und schon gar nicht vermessen. Aber er kann verstanden werden. Nur liegt das Verständnis meist zwischen den Zeilen.

Schon das Wort „Seele“ macht es deutlich. Wir alle haben ein gewisses, eher intuitives Verständnis, was „die Seele“ sei. Wir erleben ihre Regungen, die uns auf eigentümliche Weise führt. Und wir erahnen ihre verschiedenen Kräfte, die in uns wirken. Und dies alles haben wir, auch wenn wir nicht wirklich definitiv – also im Sinne einer allgemeingültigen Definition – sagen könnten, was die Seele genau ist. Schon gar nicht können wir sie mit Größenangaben wie Höhe, Breite oder Tiefe versehen oder ihr Gewicht als Zahlenwert messen. Aber wir können darüber sprechen oder schreiben. Dies sind dann tastende Versuche einer Sache habhaft zu werden, die sich aber immer nur in Teilen beschreiben lässt und sich in anderen Teilen dem Zugriff des Verstandes und des rationalen Diskurses entzieht. Jede Beschreibung muss unvollständig bleiben. Aber vielleicht – so die Hoffnung – kann sich durch die Unvollständigkeit der Beschreibung hindurch eine Anmutung des nicht Beschreibbaren einstellen. Etwas im Adressaten des Wortes gerät in Resonanz. Etwas in den Sedimenten der Lebenserfahrung sagt beim Empfang der Worte: „Ja, ich verstehe.“

Manchmal ist in Bezug auf die Seele von Landschaften die Rede, von seelischen Landschaften. Diese Landschaften kann man schauen, man kann sie durchwandern, man kann sie auf sich wirken lassen. Und dann erleben wir vielleicht auch: Es gibt hier verschiedene Arten von Landschaften, so etwas wie Typen von Landschaften. Manche Landschaften ähneln einander, auch wenn sie nie gleich sind. Sie sind aber deutlich verschieden von anderen Arten von Landschaften. Auf ähnliche Art gibt es im Theater verschiedene Arten von Stücken. Es gibt Dramen, Tragödien, Komödien, Volksstücke, Singspiele, Possen, Mysterienspiele und vielerlei mehr. Und obwohl kein konkretes Theaterstück auf dem Spielplan mit einem anderen identisch ist, erkennen wir das Genre.     
Aber zurück zu den seelischen Landschaften als Bild: Wir können sie schauen oder durchwandern, wir erkennen die Art der Landschaft und ihre Wirkung auf uns. Nur eines können wir nicht: Sie vollständig erfassen in ihrer Gesamtheit.

Die Gestalten in den seelischen Landschaften

Aber nicht so sehr von den seelischen Landschaften soll hier die Rede sein, sondern von den Gestalten und Gestaltungen, welche diese Landschaften bewohnen. Und auch diese Bewohner der seelischen Landschaften (die Gestalten) haben eine ähnliche Unschärfe wie die Landschaft selber. Auch hier finden wir bestimmte „Typen“ vor. Aber die Beschreibung, was genau diese Charaktere auszeichnet, ist immer nur hinweisend und unvollständig.

Es soll also um die Bewohner der seelischen Landschaften gehen. Diese Bewohner haben Intentionen und Impulse, sie haben Ziele und Bedürfnisse. Die Bewohner können, anders als die Landschaft, handeln. Und sie handeln in uns und durch uns, manchmal auch hinter unserem Rücken. Besser gesagt: Sie handeln hinter dem Rücken des bewussten Verstandes. Sie treiben in uns ihr Wesen und drücken ihr Wesen in uns und durch uns aus.

Es gibt auch noch ein anderes Bild. Statt von Landschaften und Bewohnern können wir auch von inneren Räumen sprechen und den Bewohnern dieser Räume, die in diesen Räumen anzutreffen sind. Die Metapher wäre hier ein Gebäude. Und was die seelischen Räume und ihre Bewohner angeht, wissen wir eins: Wenn wir mit Ihnen Kontakt aufnehmen wollen, müssen wir nach unten, in die Tiefe. Die seelischen Räume liegen in den verschiedenen Kellergeschossen, also unter der Oberfläche. Zu ihnen müssen wir hinabsteigen. Und da gibt es verschiedene Ebenen.

In den oberen Ebenen der Kellergewölbe treffen wir die Räume und die zugehörigen Gestalten an, die sozusagen persönlich sind. Hier treffen wir Gestalten, die sich aus unserer individuellen Biografie gebildet haben, aus den konkreten Umständen, unter denen wir herangewachsen sind und aus den jeweils besonderen Erfahrungen gebildet, die wir um Laufe unseres Lebens gemacht haben.

Noch einmal eine Etage tiefer treffen wir auf Räume und Gestalten, die wir mit allen Menschen teilen, quer über alle geschichtlichen Epochen und unterschiedlichen kulturellen Prägungen.

Die Archetypen

Um diese Bewohner der unteren Etagen im Keller soll es hier und in den folgenden 12 Monaten des kommenden Jahres 2025 gehen. In diesem Beitrag soll es um eine erste Beschreibung dieser sog. Archetypen gehen. Und im nächsten Jahr will ich mich in jedem Monat jeweils einem Archetyp, einem von 12 Archetypen in der Seele, beschreibend nähern. Aber zunächst zu der Frage: Was sind Archetypen?

Es gibt – so die Behauptung – unterhalb der persönlichen inneren Instanzen noch eine Reihe von Gestalten, die in uns wirksam sind, auch ohne an bestimmte biografische Erfahrungen gebunden zu sein. Diese Gestalten haben wir gemeinsam mit allen Menschen, die jemals gelebt haben. Sie gehören sozusagen zur Grundausstattung der Menschheit als Gattung. Sie leben in den Märchen, den Sagen, den Mythen und allgemein in den Geschichten die erzählt werden, sei es in Form von Romanen, Bühnenstücken oder Filmen. Hier werden sie lebendig, hier werden sie erkennbar. Wir merken es daran, dass uns eine Geschichte (oder eben ein Film) fesselt, fasziniert und in den Bann zieht. Wir identifizieren uns dann vielleicht mit zentralen handelnden Personen, auch dann, wenn wir mit dem Kontext, dem Rahmen in dem die Geschichte erzählt wird, keine eigene Erfahrung haben, keinen biografischen Anknüpfungspunkt.

Diese Gestalten leben im kollektiven Unbewussten und sind kulturunabhängig. Wir können diese Gestalten erkennen und mit ihnen in Resonanz gehen, auch wenn sie in Geschichten aus ganz alten Zeiten oder aus ganz anderen Kulturkreisen uns entgegentreten. Auf einer bestimmten Ebene, auch wenn diese Ebene recht bewusstseinsfern ist, kennen wir diese Gestalten und wir haben sie immer schon gekannt. Wir kennen sie aus allen unseren Leben und Inkarnationen. Diese Gestalten sind so alt wie die Menschheit, sie sterben nie, solange es Menschen gibt, aber sie wechseln natürlich gelegentlich ihr Gewand. Sie leben am Urgrund der Seele und sie repräsentieren Ur-Erfahrungen des Menschseins. Sie müssen nicht individuell als Erfahrung gewonnen werden, sie sind immer schon da, unabhängig von konkretren individuellen Erfahrungen. Und sie begleiten uns durch das Leben – durch jedes Leben. Psychoanalytisch gesprochen: Diese inneren Gestalten sind nicht das Resultat von Verdrängung, Resultat von konflikthaften Erfahrungen, die wir nicht im Bewusstsein halten können oder wollen und die wir daher in den Untergrund der „Illegalität“ abschieben, also verdrängen. Diese Ur-Gestalten wurden nie verdrängt, sie waren immer schon da – und zwar unten, am Urgrund, im Unbewussten. Anders gesagt: Sie waren nie im Bewusstsein.

Wenn wir aber in unserem besonderen Leben auf eine Situation treffen, welche der Grundnatur einer dieser Urgestalten entsprechen, dann regt sich dieser Archetyp in uns. Und oft werden wir dann von gewaltigen Kräften ergriffen. Es fühlt sich dann vielleicht so an, als ob wir mit unserem Willen dagegen ziemlich machtlos wären, irgendetwas, was wir nicht genau verstehen, kommt über uns, ergreift uns und beeinflusst unser Handeln. Wir erfahren dann starke innere Kräfte.        
Meine Vermutung ist, aber es ist wirklich nicht mehr als eine Vermutung, dass diese Kräfte deshalb so stark wirken, weil in den Momenten, wo mir mit einem Archetyp deutlich zu tun bekommen, wir hier etwas kollektiv menschliches ausagieren, nicht nur etwas individuelles. Im Archetyp steckt die gesamte Energie der Gattung Mensch.

Die Beobachtung, dass es im Unbewussten Bereiche gibt, die nicht rein individuelle Erfahrungen sind, sondern Erfahrungen der ganzen Menschheit, der ganzen Gattung, geht zumindest in der westlichen Moderne auf Carl Gustav Jung zurück. Er nannte diesen Bereich das kollektive Unbewusste. Und auf ihn geht auch die Bezeichnung „Archetypen“ zurück, welche er für die Ur-Gestalten wählte, die man in diesen kollektiven Bereichen des Unbewussten antreffen kann. Der Begriff kommt aus dem Altgriechischen. Hier meint „arche“ so etwas wie Ursprung. Und als Wortteil in einem zusammengesetzten Wort meint es dann so etwas wie „ur-“ oder „haupt-“. Und „typos“ leitet sich ab vom Verb „typein“, welches Schlagen bedeutet. In der Zusammensetzung bedeutet „typos“ dann so etwas wie eine Grundprägung oder eine Urform, so wie eben z.B. bei der Prägung einer Münze das Bild in das Metallstück hineingeschlagen wird. Man könnte „Archetyp“ also als Urform oder Grundgestalt oder auch Grundcharakter übersetzen.

Die Archetypen als etwas Überpersönliches

Ich hatte in diesem Blog kürzlich bereits in insgesamt vier Beiträgen in den Monaten Juli bis Oktober 2024 verschiedene Dinge angeführt[1], die man manchmal in einer Aufstellung über eine Stellvertreterperson sprechen lässt, obwohl es sich nicht wirklich um konkrete Personen handelt. Dies kann ein Land oder eine Region als Heimat sein, eine Krankheit oder ein Symptom, oder auch ein Haus oder einen Betrieb oder mitunter auch so etwas wie Gott, aber in manchen Aufstellungsformen auch Ziele oder Entscheidungsalternativen. Hier haben wir dann unpersönliche oder überpersönliche Positionen / Akteure in der Aufstellung.

Die Archetypen sind auch etwas Überpersönliches, weil es sich ja um Charaktere aus dem kollektiven Unbewussten handelt. Und manchmal erweist es sich als hilfreich oder gar notwendig, bei einem bestimmten Anliegen in einer Aufstellung auch einen Archetyp aufzustellen, der besonders mit dem Thema zu tun hat. Ich mache dies meist so, dass dieser Archetyp – also sein Steilvertreter – auf einen Stuhl gestellt wird. Damit wir zum Ausdruck gebracht, dass der Archetyp groß ist, viel größer als jeder Mensch. Man kann auf diese Weise in einer Aufstellung einem Archetyp begegnen, ihn kennen lernen, etwas darüber erfahren, wie er in meinem Leben wirkt, was er von mir will.

Die Archetypen als kollektive Gestalten gibt es in jedem von uns, und zwar alle. In diesen Kelleretagen hat jeder Archetyp einen Raum in jeder Seele. Allerdings in höchst unterschiedlichen Gewichtungen. Nicht jeder Archetyp ist in jedem Leben wichtig oder zentral. Meist sind das nur wenige oder auch nur einer, der wirklich bedeutsam ist. Die anderen gibt es auch in mir als Grundformen von seelischen Regungen, aber sie drücken sich vielleicht nur in Kleinigkeiten aus und werden kaum bemerkt. Auch kann es sich in unterschiedlichen Lebensphasen unterschiedlich darstellen, ein Archetyp, der in einer bestimmten Lebensphase sehr dominant präsent war, verliert im älter werden an Bedeutung. Dagegen können sich in späteren Lebensabschnitten dann vielleicht andere Archetypen deutlich vernehmbar bemerkbar machen, die bislang kaum eine Rolle gespielt haben.

Als Analogie kann man sich dies vorstellen wie bei einem Theaterstück. Da gibt es Hauptrollen, welche durchgängig im Zentrum der Bühne und im Fokus der Scheinwerfer stehen. Und es gibt Nebenrollen, die vielleicht nur in einer Szene überhaupt auftreten und dort womöglich auch nur einen Satz haben. Und es gibt noch Statisten / Komparsen, die einfach nur anwesend sind im Hintergrund ohne eigenen Text. Und so ist es auch mit den Archetypen im Stück deines Lebens. Nur wenige sind Hauptdarsteller, die Mehrzahl wirkt unauffällig im Hintergrund. Aber je nach Akt des Dramas kann sich die Betonung ändern, es kann sein, dass eine Person / Rolle in den Vordergrund der Bühne und damit der Aufmerksamkeit gerät – aber eben nur in diesem einen von fünf Akten.

Wie gesagt: Im nächsten Jahr (2025) soll jeweils einer der monatlichen Beiträge in diesem Blog einem bestimmten Archetyp gewidmet sein. Wir werden uns jeweils einen konkreten Archetyp vor Augen führen. Ich werde diesen einen Archetyp jeweils in seinem Grundcharakter und seinem Wirken in unserer Seele ein wenig beschreiben. Eigentlich sollte ich hier besser sagen: Ich werde das versuchen, wohl wissend, dass meine Beschreibung vermutlich immer hinken wird und mit Sicherheit immer unvollständig bleibt. Allerdings hege ich die Hoffnung, dass die Beschreibungen für die Leserinnen und Leser ein Fingerzeig sein mögen. Wenn die Beschreibung in dir, liebe Leserin und lieber Leser, Assoziationen auslöst und Anlass bietet, dich mit dieser inneren Gestalt und ihrem Wirken in dir ein wenig zu beschäftigen, dann wäre das Ziel des jeweiligen Textes erreicht.

Widmung

Ich widme diesen Beitrag und auch die kommen zwölf Beiträge meinem großen Lehrer Peter Orban, der kürzlich verstorben ist. Alles Wesentliche, was ich über die Archetypen meine verstanden zu haben, habe ich von ihm.

Wenn ich versuche, mein gegenwärtiges Verständnis eines Archetyps in Worte zu kleiden, geschieht dies in dankbarer Erinnerung an das Wirken von Peter Orban, auch wenn meine Texte nicht an die Beschreibungen von Peter Organ heranreichen werden. Es soll eine Würdigung sein.


[1] Das Land als Heimat (Juli 2024)          
Krankheiten und Symptome (August 2024)         
Häuser, Wohnungen, Betriebe und Ähnliches (September 2024)   
Was sonst noch seelische Bedeutung haben kann (Oktober 2024)

Die Verstrickung über Erwartungen

Manchmal bleiben wir mit wichtigen Personen in unserem Leben, wie z.B. Eltern oder anderen wichtigen Personen, auf eine ungünstige Weise verbunden. Gemeint ist diejenige Art von Verbundenheit, die wir bei Familienaufstellungen auch als „Verstrickung“ bezeichnen. Dabei werden aus dem Feld des Familiensystems über eine unbewusste Identifizierung fremde Gefühle übernommen oder auch fremde Schicksale, Verhaltensweisen, Konflikte oder gar Erkrankungen. Gemeint ist hier also nicht die gesunde Bindung an andere Menschen oder das Herkunftssystem. Die gesunde Bindung ist lebensfördernd, sie dient dem Fluss der ursprünglichen Liebe und macht frei für Neues und für eigenständiges, mir gemäßes Handeln. Die ungünstige Bindung als Verstrickung macht dagegen unfrei, sie blockiert den natürlichen Lebensfluss und hält uns in ungünstigen Mustern im Verhalten fest.

Spezifisch geht es in diesem Beitrag um Erwartungen an wichtige Personen in unserem Leben, an denen wir festhalten, ohne es oft wirklich zu merken. Und noch genauer geht es um Erwartungen, bei denen wir aus Erfahrung wissen, dass sie von der fraglichen Person nicht erfüllt werden. Zusätzlich ist es meist auch so, dass die Erfüllung dieser Erwartungen in der Vergangenheit, also etwa in der Kindheit oder Jugend, sinnvoll und notwendig gewesen wäre, die Erfüllung der Erwartungen also schmerzlich vermisst wurde, aber in meinem Jetzt als erwachsene Person vielleicht gar nicht mehr angemessen wäre.

Die nicht perfekten Eltern und die seelischen Wunden der Kinder

Am deutlichsten wird dies in der Beziehung zu unseren Eltern. Das kleine Kind kommt sehr abhängig und bedürftig auf die Welt. Es ist auf Fürsorge und die liebevolle Zuwendung durch die Eltern angewiesen. Im Idealfall wird ein als Kind als Neugeborenes voller Freude willkommen geheißen und die wichtigen Bezugspersonen sind willens und in der Lage, diesen neuen Erdenbürger – den Nachwuchsmensch im Trainee-Programm, welches wir Kindheit und Jugend nennen – in all seinen Besonderheiten nicht nur zu sehen, sondern auch in der Entwicklung der ganz einzigartigen Anlagen zu fördern. Aber: Dies beschreibt eben ein Ideal. Und kein Ideal ist im Leben tatsächlich ohne Abstriche verwirklichbar. Eltern sind nicht perfekt[1], sie sind Menschen und somit fehlbar.

Das Kind erlebt also im Laufe des Heranreifens ein gewisses Ausmaß an Enttäuschungen von Erwartungen. Und ich meine hier jetzt nicht beliebige selbstsüchtige Ansprüche, sondern ich meine die Erwartungen, die wir alleine durch unsere Biologie mitbringen. Wir sind als Menschen – auch – Säugetiere, und zwar Säugetiere mit einer besonders langen Adoleszenz. Und hier gibt es von Anfang an ein Gefühl dafür, was man als komplexes Lebewesen benötigt, um sich gedeihlich zu entwickeln. Das Gefühl für stimmige Entwicklungsbedingungen ist von Anfang an vorhanden, auch wenn es erst sehr spät in der Entwicklung, wenn überhaupt, sprachlich ausgedrückt werden kann. Und das Gefühl äußert sich, wenn etwas fehlt, etwas vermisst wird.

Nun sind diese Enttäuschungen von Erwartungen wie gesagt gar nicht zu vermeiden. Es ist eine Frage des Ausmaßes. Ein gewisses Ausmaß an nicht erfüllten Erwartungen ist vermutlich sogar notwendig und im Effekt entwicklungsförderlich. Allerdings: Wenn es an wichtigen Voraussetzungen für eine gedeihliche Entwicklung in einem bedeutsamen Ausmaß und dauerhaft fehlt, dann entstehen so etwas wie „seelische Urwunden“. In einem therapeutischen Kontext kann man auch von Traumata sprechen, und zwar in Form von Entwicklungstraumata (im Gegensatz zum Schocktrauma).     
Ich bin den verschiedenen Formen von solchen seelischen Urwunden hier im Blog in einer 9-teiligen Artikelserie zwischen August 2023 und April 2024 ausführlich nachgegangen[2]. Hier geht es mir um etwas Anderes.

Die unterschwellige Bindung an das noch Offene und Unerledigte

Es gibt in unserer Psyche einen Mechanismus, der dafür sorgt, das noch offene Fragen oder auch unabgeschlossene Handlungen unterschwellig weiter verfolgt werden. Wenn ich eine Handlung begonnen, aber noch nicht abgeschlossen habe, wird ein Teil meiner geistigen Kapazität dafür verwendet, die Erinnerung daran, dass hier noch etwas zu tun ist, unterschwellig am Leben zu halten. Wenn wir ein Gespräch oder eine Veranstaltung mit einer für uns interessanten offenen Frage verlassen, dann arbeitet unser Geist im Unbewussten, manchmal sogar leicht merkbar im Randbewussten, an der Beantwortung dieser Frage, auch wenn wir uns mit dem normalen Tagesbewusstsein mit ganz anderen Dingen beschäftigen. Auch bei Lebensplänen oder sog. „Lebensskripten“ ist es oft so: Wenn ich den Weg zu einem größeren Lebensziel eine bestimmte Wegstrecke gegangen bin und dann diesen Weg durch bestimmte Umstände unterbrechen musste, dann bleibt in meinem Geist immer latent die Tatsache präsent, dass hier noch etwas unerledigt und nicht abgeschlossen ist. Und diese gedankliche Präsenz des Unabgeschlossenen hat einen großen Aufforderungscharakter.

Ähnlich ist es auch mit wichtigen Gefühlen und Emotionen, die auf etwas Fehlendes und Unabgeschlossenes verweisen und eben auch mit den Dingen, die bei uns in der Kindheit und Jugend gefehlt haben und die wir schmerzlich vermisst haben. Diese Dinge entfalten in unserem Innenleben und im seelischen Raum eine Bindung – die uns aber nicht immer gut tut. Ich möchte fast sagen, das was uns früher im Leben intensiv gefehlt hat, was also eine Art seelische Wunde damals war, entwickelt einen „klebrigen“ Charakter. Und das tut uns oft nicht gut, schränkt uns ein oder blockiert uns. Ein Teil unseres Potentials, was wir jetzt vollbringen könnten im Leben, ist gebunden an das, was früher gefehlt hat und steht nicht zur vollen Nutzung zur Verfügung.

Die unausgesprochenen Erwartungen

Natürlich sind hier die Eltern besonders wichtig für diejenigen Formen der Aufmerksamkeit, Anerkennung, Unterstützung usw., deren wir damals in unserem jüngeren Selbst so dringend bedurft hätten, die wir aber von unseren Eltern damals eben nicht erhalten haben. Warum auch immer das so war, ob die Eltern es gar nicht bemerkt haben, ob sie es gar nicht konnten – das ist einerlei.

Mein Eindruck, auch über viele Beispiel in Familienaufstellungen, ist: Warum wir uns so schwer lösen können von dem, was uns damals gefehlt hat, was wir jetzt aber als Erwachsen nicht mehr von Anderen benötigen, sondern selber erledigen können, hat damit zu tun, dass wir das damals Fehlende immer noch von unseren Eltern erwarten. Dies ist sicherlich oft höchst unbewusst, allenfalls manchmal vielleicht randbewusst, d.h. mit viel Selbstaufmerksamkeit und hinspüren bei mir selber kann ich es als feine Regung bemerken. Es ist dieser Wunsch oder die Erwartung, es möge im Kontakt mit meinen Eltern einmal anders sein, einmal möchten wir es erleben, dass wir das damals Fehlende doch noch, sozusagen nachträglich, von unseren Eltern erhalten. Vielleicht eben eine bestimmte Form der Anerkennung oder das wir in unserem So-Sein, in unserer Besonderheit gesehen und bestätigt werden.

Wie gesagt: Wir sind uns meist dieser Erwartungen an unsere Eltern nicht bewusst. Es ist eine unausgesprochene Erwartung, unausgesprochen auch vor uns selber. Und gerade dieser latente oder unterschwellige Charakter dieser Erwartung hält uns besonders gefangen und verhindert, dass wir uns lösen können von diesem Anspruch. Wenn wir uns den unausgesprochenen Erwartungen bewusst wären, dann würden wir in den meisten Fällen auch sofort erkennen: Es ist nicht zu erwarten, dass ich von meinen Eltern das damals Fehlende doch noch einmal bekomme. Wir wüssten sehr schnell, dazu kennen wir sie lange genug, an genau dieser Stelle haben sie vielleicht einen sog. „blinden Fleck“ oder sind einfach für dieses Bedürfnis nicht wirklich „schwingungsfähig“, so wie sie nun einmal sind mit ihren Eigenheiten und mit dem, wodurch sie geprägt wurden in ihrem Leben. Und wir würden vielleicht auch Bemerken: Jetzt, als erwachsene Person, benötige ich dasjenige, was mir als jüngerem Selbst gefehlt hat, auch eigentlich gar nicht mehr wirklich. So wie ich mit einem bestimmten Spielzeug, dass ich als Kind vielleicht gerne gehabt hätte aber eben nicht hatte, heute nicht mehr so wirklich viel anfangen könnte.

Die lösende Bewegung

Ich habe im Rahmen von Familienaufstellungen festgestellt, dass die in Erwartungen an unsere Eltern gebundene Energie wieder freigesetzt werden kann. Dazu benötigt es eine bestimmte (innere) Bewegung. Wenn ich etwa im Rahmen einer Aufstellung meiner Mutter oder meinem Vater gegenüber stehe, dann schaue ich auf das Elternteil, ich schaue den Vater oder die Mutter an und schaue ihm oder ihr in die Augen. Kurz: Ich schaue hin! Ich schaue nicht (nur) auf mich und mein Defizit.

Und ein wesentlicher Teil der lösenden Bewegung ist dann, dass ich Kontakt aufnehme und deutlich spüre, was ich von meinen Eltern tatsächlich erhalten habe. Und das Wichtigste dabei ist: Von ihnen habe ich das Leben erhalten. Von Ihnen habe ich mein Leben empfangen. Und das ist so fundamental, dass es die Einschränkungen, den Mangel und die Defizite überwiegt. Und dafür kann ich dankbar sein, wie auch immer die sonstigen Umstände gewesen sein mögen.  
Dieser Teil der lösenden Bewegung gehört sozusagen zur Ur-DNA der Familienaufstellungen. Das Leben erhalten zu haben, ist ein großes Geschenk. Auch wenn manches schwer war, oder schlimm war. Wie zentral diese Grundtatsache des Lebens ist, kann man ermessen, wenn man sich die Frage stellt: Wäre es besser, wenn es mich nicht gäbe?

Zur lösenden Bewegung gehört aber meinem Eindruck nach dann aber auch, dasjenige, was damals bedeutsam gefehlt hat, klar zu benennen. Es geht hier um einfache Aussagesätze, nach Möglichkeit ohne Vorwurf, eher als Feststellung. Auch hier: Wir stehen Vater oder Mutter gegenüber, schauen sie an, fassen sie in ihrem gesamten So-Sein ins Auge und sagen: „Damals, als Kind, hat mir xxx von dir sehr gefehlt.“ Oder: „Damals hätte ich mir von dir xxx so sehr gewünscht.“ Und xxx steht natürlich für das, was gefehlt hat und was einmal möglichst klar, aber auch einfach und kurz benannt werden sollte. Und evtl. fügen wir noch an: „Und damals war das schwer für mich“ oder auch „damals war das schlimm für mich“. Wir beziehen uns also auf die Vergangenheit, so wie wir sie erlebt haben. Wie es uns damals als Tochter oder Sohn mit den Eltern ergangen ist.
Dieser Teil ist nach meinem Eindruck in den Familienaufstellungen erst später mit der Entwicklung der Familienaufstellungen üblicher geworden. Aber dieser Schritt in der inneren Bewegung ist genauso wichtig, er ist die Ergänzung zum ersten Schritt, der Dankbarkeit für das Leben. Beides muss sich ergänzen, in einem gewissen Gleichgewicht sein.

Und dann benötigt es noch einen dritten Schritt in der Bewegung, der mir erst kürzlich wirklich klar geworden ist. Wir schauen immer noch auf Vater oder Mutter und sagen: „Damals hätte ich xxx gebraucht. Aber jetzt, wo ich schon einige Zeit erwachsen bin, erwarte ich es nicht mehr von dir.“ Auch hier: Wir sagen das ohne Bitterkeit, sondern gesammelt und als einfache Tatsachenfeststellung. Ich bin jetzt anders, meine Lebenssituation ist jetzt anders. Und wenn wir diesen Satz sagen, spüren wir nach, wie es uns mit dem Satz ergeht. Stimmt er? Können wir uns wirklich vollständig lösen von der Erwartung? Wenn wir es (noch) nicht können, verändern wir den Satz. Vielleicht in die Form: „Aber jetzt, als Erwachsener, bemerke ich, es wäre gut für mich, wenn ich von meiner Erwartung an dich lösen könnte, in dem Ausmaß, wie es für mich gerade möglich ist.“     
Dieser letzte Schritt der Bewegung löst den Anspruch, den ich vielleicht noch habe gegen meine Eltern, vielleicht auch ohne es zu merken. Ich löse mich von dem Anspruch, gehe in meine wahre Größe und Kraft und bleibe handlungsfähig.

Mir scheint, dass diese Bewegung in allen drei Teilen der Bewegung dazu beiträgt, dass die seelischen Wunden von früher jetzt für mich nur noch Narben sind. Ich kann mich erinnern, mit Blick auf die Narbe: Da war mal etwas und damals war es schmerzhaft. Aber jetzt schmerzt es nicht mehr, die seelische Wunde ist ausgeheilt. Es bleibt lediglich: Die Erinnerung … und eben die Narbe.


[1] Nebenbei bemerkt: Gäbe es „perfekte“ Eltern, wäre es durchaus fraglich, ob dies wirklich wünschenswert wäre. Einerseits, weil ein gewisses Ausmaß an Schwierigkeiten, an nicht perfekten Lebensbedingungen überhaupt erst Entwicklung und Reife ermöglicht und uns als Persönlichkeit ein „seelische Gewicht“ verleiht. Im Sport sagt man: Die Charakterbildung erfolgt anhand der Niederlagen, nicht anhand der Siege und Triumphe. Aber auch unabhängig davon: Wären wirklich perfekte Eltern überhaupt auszuhalten für die Kinder? Was für eine Art von Druck würde dies allein über das Lernen am Vorbild in den Kindern erzeugen? Ich vermute, wenn es perfekte Eltern gäbe, wäre dies für die Kinder eine im Wortsinne unmenschliche Situation.

[2] Die Teile der Artikelserie finden sich hier: Teil1, Teil2, Teil3, Teil4, Teil5, Teil6, Teil7, Teil8 und Teil9.

Unpersönliche Gestalten in einer Aufstellung: Was sonst noch seelische Bedeutung hat oder haben kann

In den letzten drei Beiträgen hier im Blog ging es um Gestaltungen und Gestalten, die mitunter in einer Aufstellung als Positionen mit Stellvertretern besetzt werden, bei denen es sich aber nicht um konkrete Menschen handelt, die leben oder gelebt haben. Im Blogartikel im Juli 2024 ging es dabei um Heimatländer, im August um Krankheiten oder Symptome und im September um Häuser, Wohnungen oder auch Betriebsgebäude. In diesem Beitrag soll dieses Thema noch einmal aufgegriffen werden. Einerseits dadurch, dass noch einige weitere Gegebenheiten aufgeführt werden, die man manchmal mit aufstellen muss. Aber es soll auch beschrieben werden, soweit das möglich ist, wann solche Gestalten, welche nicht reale Personen/Menschen repräsentieren, überhaupt für eine Aufstellung in Frage kommen.

Weitere unpersönliche Gestalten in einer Aufstellung

Das Feld von möglichen unpersönlichen Gestalten, die manchmal in einer Aufstellung vorkommen können oder gar vorkommen müssen, ist recht mannigfaltig. Es soll daher nur aufzählend Einiges kurz benannt werden, ohne Anspruch auf Vollständigkeit und ohne auf die Einzelheiten näher einzugehen. Es soll lediglich das mögliche Spektrum zu angedeutet werden.

Es kann z.B. sein, dass es bei einem Anliegen notwendig oder sinnvoll ist, ein kreatives Werk wie vielleicht ein Buch, ein Gemälde oder vielleicht auch ein Drehbuch für ein Filmprojekt aufzustellen. Bei manchen Themen kann es sich als hilfreich erweisen, so etwas wie verschieden innere Anteile, sozusagen das „innere Team“ von Teilpersönlichkeiten, aufzustellen. Bei beruflichen Themen kann es sein, dass verschiedene Arbeitsfelder aufgestellt werden.     
Wenn Menschen beruflich in „ideologischen Organisationen“ tätig sind, dann ist es oft notwendig, auch diese Organisation oder deren Zweck mit aufzustellen. Mit „ideologischen Organisationen“ meine ich Organisationen, deren Zweck in erster Linie in der Beförderung einer bestimmten Idee oder Weltsicht besteht, also in einem geistigen Inhalt. Hier wäre z.B. an politische Parteien, Gewerkschaften, Menschenrechtsorganisationen, Tierschutzvereinigungen aber vor Allem an religiöse Organisationen wie Kirchen zu denken.   
Manchmal müssen auch bestimmte Instanzen von politischen Systemen aufgestellt werden wie etwa die Gestapo in der Zeit des Nationalsozialismus. Auch bei bestimmten ehrenamtlichen Tätigkeiten kann es sein, dass man diese Tätigkeit oder deren Zweck oder die Menschengruppe, denen diese ehrenamtliche Tätigkeit dient, aufstellen muss. Als letztes Beispiel sei hier angeführt, dass in machen Fällen vielleicht auch ein Haustier aufgestellt werden kann oder muss.

Spezielle Aufstellungsformate

Bislang ging es um nicht menschliche (unpersönliche) Stellvertreterpositionen in einer sozusagen „normalen“ Aufstellung. Ein Mensch schildert ein Anliegen, eine seelische Problematik, eine Verstrickung und mittels der Aufstellung sollen die seelischen Kräfte und Bewegungen dahinter sich zeigen können und einer Lösung zugeführt werden. Und da kann es eben sein, dass man Personen aus dem Familiensystem aufstellt und zusätzlich, weil es eben in dem Fall relevant ist, vielleicht noch das Herkunftsland eines Elternteiles oder den Familienbetrieb, den der Vater in der vierten Generation geführt hat und der dann Pleite gegangen ist – oder was auch immer es im Einzelfall ist. Hier werden also sowohl reale Personen wie auch etwas Unpersönliches oder Überpersönliches aufgestellt.

Es haben sich aber inzwischen auch einige Aufstellungsformen oder Austellungsformate entwickelt, bei denen man ausschließlich etwas unpersönliches oder abstraktes aufstellt, wo also keiner der Stellvertreter für eine konkrete Person steht. Bei Zielaufstellungen wird die Situation adressieren, dass bestimmte Ziele immer wieder verfehlt werden, obwohl alle Voraussetzungen für die Zielerreichung vorliegen und es sich sachlogisch nicht erklären lässt. Hier stellt man dann etwa das Ziel auf zusammen mit Blockaden, Ressourcen und auch die hinter dem Ziel liegende Aufgabe, welche sich mit dem Erreichen des Zieles stellt. Bei einer schwerwiegenden Entscheidung, bei der die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten nicht getroffen werden kann (Entscheidungsdilemma), kann der blockierte Entscheidungsprozess mit einer sog. Tetralemma-Aufstellung eine neue Sichtweise erfahren und somit wieder in den Fluss kommen. Im Rahmen von Organisationsaufstellungen werden meist Abteilungen oder Organisationseinheiten oder Funktionen aufgestellt und durch Stellvertreter vertreten, aber auch die Produkte oder die Kunden. Dies alles wären Aufstellungsformen, bei denen ausschließlich abstrakte Positionen aufgestellt werden und keine natürlichen Personen.

Woran entscheidet sich, ob etwas für eine Aufstellung geeignet ist?

Man könnte jetzt vielleicht auf den Gedanken verfallen, dass eigentlich ja fast alles irgendwie aufgestellt werden könnte. Das ist auch nicht ganz falsch. Aber in einer Aufstellung geht es ja um seelische Bewegungen und Dynamiken. Etwas Un- oder Überpersönliches würde man nur dann aufstellen, wenn es für die jeweilige Person und das vorliegende Anliegen/Thema dieser Person auch von seelischer Bedeutung ist, wenn es in diesem Kontext ein seelisches Gewicht hat. Man könnte vielleicht auch sagen: Wenn diese unpersönliche oder überpersönliche Gestalt wesentlich zu dem größeren Feld gehört, durch welches die Klientin oder der Klient geführt wird. Oder noch anders gesagt, wenn die unpersönliche Gestalt, die wir durch eine Stellvertreterperson ins Feld der Aufstellung einführen und die wir über die stellvertretende Wahrnehmung in Form von Gefühlen und Intentionen sprechen lassen, im Kontext eines schicksalhaften Geschehens steht.

Im Gegenzug kann man sagen, wenn eine eher abstrakte Position in einer Aufstellung durch Stellvertreter verkörpert wird und das seelische Gewicht dabei aber fehlt, die Aufstellung oft oberflächlich bleibt, keine Tiefe gewinnt und sich irgendwie „schal“ anfühlt. Meist ist dann die Motivation beim Aufstellen genau dieser Thematik oder dieser Gestalten ein eher intellektuell gelagertes Interesse. Man möchte mal wissen, was es da alles vielleicht noch für Zusammenhänge gibt, aber ohne wirkliche Bedeutung für die eigene Lebensführung, ohne eine wirkliche seelische Not, welche eine Aufstellung „not-wendig“ machen würde. Mein Eindruck von solchen Aufstellungen ist, dass sich hier das seelische Feld verweigert. Die Informationen über die Stellvertreter kommen dann eher aus dem Verstand, aus irgendwelchen Gedanken oder Vorstellungen, welche sich die Stellvertreter machen. Es haftet der Aufstellung etwas Oberflächliches und Beliebiges an.

Wie kann man nun entscheiden, ob und wenn ja welche unpersönlichen Positionen in eine Aufstellung eingeführt werden sollten? Nach meinem Eindruck gibt es da keine wirkliche Regel, es gibt hier auch kein Sachwissen, an das man sich halten könnte. Mir erscheint es so: Wenn ich als Aufstellungsleiter mir das Anliegen schildern lasse, lausche und spüre ich in das Gesagte hinein, möglichst ohne jegliche Vorannahme. Vor allem ohne die Vorannahme, dass ich, nur weil mir jemand ein Anliegen benennt und etwas über die Hintergründe dabei sagt, irgendetwas wirklich davon verstehen würde. Aus dieser Haltung des Nichtwissens, aus der Haltung der möglichst vollständigen Leere und Unvoreingenommenheit, soweit mir das möglich ist, ergibt sich dann Etwas. Irgendetwas erreicht mich, vielleicht bei einem bestimmten gesagten Wort oder einem bestimmten Satzteil und es ist wie wenn in mir ein Ton erklingt, eine kleine Glocke angeschlagen wird. Und dann weiß ich: Dies hier ist wichtig, dies sollten wir aufstellen. Aber ich weiß nicht, woher ich das weiß. Ich könnte das nicht begründen. Ich weiß nur: Es kommt nicht von mir. Es kommt aus dem, was wir in der Aufstellungsarbeit das „wissende Feld“ nennen. Und was das genau ist, bleibt allen Beschreibungsversuchen zu Trotz, ein Mysterium.

Eine noch ganz andere Art von überpersönlichen Gestalten

Abschließend möchte ich noch eine ganz andere Art von solchen überpersönlichen Gestalten anführen, die ich manchmal in Aufstellungen über Stellvertreter sich ausdrücken lasse: Die Archetypen. Davon soll in zukünftigen Beiträgen die Rede sein.         
Hier nur so viel: Archetypen sind ganz alte, archaische Urbilder für seelische Kräfte, Impulse und Intentionen. Sie gehören zum kollektiven Unbewussten der Menschheitsfamilie, zur kompletten Menschheitsgeschichte mit ihren unterschiedlichsten Kulturen. Die Archetypen leben in jedem Menschen, in jeder Seele, allerdings in unterschiedlichen Gewichtungen. Und sie sind groß! Größer als jeder einzelne von uns.

Unpersönliche Gestalten in einer Aufstellung: Häuser, Wohnungen, Betriebe und Ähnliches

In diesem Beitrag soll es noch einmal darum gehen, dass manchmal in einer Aufstellung Positionen aufgestellt werden, die nicht Personen, konkrete Menschen sind. Nach dem es im vorletzten Beitrag um Länder oder Gebiete als Heimat ging und im letzten Beitrag um Krankheiten und Symptome, soll es hier um einige Weitere Gegebenheiten gehen, die man manchmal mit aufstellen muss, weil sie in engem Bezug stehen zu dem seelischem Geschen, welches als Anliegen eines Menschen das Thema der Aufstellung ist.

Häuser oder Wohnungen

Manchmal spielen Häuser oder Wohnungen so in ein Anliegen hinein, dass man sie als eigene Position aufstellen sollte. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn das Haus oder die Wohnung schon länger, über mehrere Generationen hinweg, im Besitz der Familie ist. Die Bedeutung ist mitunter auch noch einmal stärker, wenn für das Thema wichtige Vorfahren oder gar man selber in diesem Haus geboren wurde.

Es mag auf den ersten Blick etwas merkwürdig erscheinen, wenn man z.B. ein Haus nicht nur aufstellt und dann die Person, um die es geht, fragt, wie es ihr mit dem Haus geht, sondern auch das Haus danach fragt, wie es ihm mit der Protagonistin oder dem Protagonisten geht. Hier stellt sich vielleicht die Frage, hat ein Haus überhaupt eine Stimme, ein Wollen, hat ein Haus etwas Seelisches?  
Ob ein Haus eine Seele hat, weiß ich nicht wirklich zu sagen. Aber es gibt etwas – da bin ich mir inzwischen durch Beobachtung in Aufstellungen recht sicher – was man am besten so beschreiben kann: Manchmal ist sozusagen in dem Gemäuer ein Geist eingewoben, zum Beispiel eben der Geist einer Familie über mehrere Generationen, der Geist der Ahnen. Und was dann über das Haus in der Aufstellung spricht, ist vielleicht der Geist der Vorfahren, die sich hier melden.

Grundsätzlich ist es meist so in den Aufstellungen, wenn man ein Haus wie eine Person sprechen lässt, dass ein Haus gerne einen guten Raum oder guten Rahmen bietet, für die Menschen, die es bewohnen. Das Haus ist zufrieden, wenn es belebt ist, wenn es den Bewohnern gut geht und insbesondere auch, wenn in dem Haus neues Leben einen Ort zum Aufwachsen findet, Häuser freuen sich oft über Kinder.

Es gibt aber noch etwas Anderes was hier eine Rolle spielen kann. Wenn den Bewohnern eines Hauses schweres Unrecht angetan wurde mit Bezug zu diesem Haus oder zu Wohnungen in diesem Haus, dann haftet auch dies im Gemäuer und wirkt auf spätere Bewohner, wenn auch mitunter sehr unterschwellig. Im Nationalsozialismus wurden Juden deportiert und ermordet und natürlich waren manche dieser Juden auch Immobilienbesitzer. Die entsprechenden Häuser oder Wohnungen wurden dann „arisiert“, gingen dann an sogenannte „Volksdeutsche“, oft zu einem Preis weit unter Wert. Und dann schwebt in dem Haus eben der geistige Abdruck dieses Geschehens: Das Unrecht aber auch, dass die neuen Bewohner einen Vorteil aus dem Unrecht an den alten Bewohnern gezogen haben.

In so einem Fall ist es zentral, dass das Unrecht und das schwere Schicksal der früheren jüdischen Bewohner anerkannt und gewürdigt wird.

Ähnlich gelagert dürfte der Fall sein, wenn neue Bewohner in Häuser einziehen, deren frühere Bewohner vertrieben wurden, meist unter Zurücklassung des gesamten Inventars wie Möbel und persönliche Gegenstände. Dies ist etwa im Rahmen der „Westverschiebung“ Polens nach dem zweiten Weltkrieg in vielen Fällen passiert. Und die neuen polnischen Bewohner von Häusern und Wohnungen, in denen ehemals Deutsche lebten, waren oft selber Vertriebene aus dem früheren östlichen Teil Polens, der dann zum Staatsgebiet der UdSSR gehörte. Man kann sich leicht vorstellen, dass durch die Übernahme von Möbeln und anderen Einrichtungsgegenständen der früheren Bewohner der Geist dieser ehemaligen Bewohner noch einmal deutlicher präsent ist.

Ich stand auch einmal als Stellvertreter für ein Haus in einer Aufstellung und in diesem Haus war ein Mord an dem Besitzer begangen worden, um sich danach das Haus anzueignen. Der Mord war nie polizeilich ermittelt oder gesühnt worden. Und die Empfindung in der Stellvertretung war eine starke Empörung. Das Haus fühlte sich empört über das Schicksal des früheren Besitzers, über die Tat und insbesondere über die Vertuschung der Tat. Es fühlte sich so an, als ob das Haus böse sei auf die jetzigen Bewohner, welche aber schon die nächste Generation nach dem Täter war. Tatsächlich lag wohl – wie man manchmal sagt – kein Segen auf diesem Immobilieneigentum für die nachfolgenden Bewohner. Es kam zu allerlei in der Häufung schwer erklärbaren Schäden, welche auf die Dauer die Finanzmittel der Nachgeborenen des Täters arg belasteten und es soll eine als „unheimlich“ beschriebene Atmosphäre in dem Haus geherrscht haben.

Firmen und Betriebe

Auch Firmen und Betriebe können eine seelische Auswirkung auf Menschen haben und sind deshalb manchmal in Aufstellungen vertreten. Dies gilt natürlich insbesondere, wenn es um Familienbetriebe handelt.

Wenn der Betrieb oder das Geschäft von der Person, für welche die Aufstellung gemacht wird, selbst gegründet wurde ist ein Zusammenhang mit einem wichtigen seelischem Thema oft unmittelbar evident. Die Gründung eines Unternehmens oder eines Betriebes entfaltet mitunter eine Eigendynamik, das Unternehmen verlangt für sein Gedeihen ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Energie. Die Wirkung eines selbst gegründeten Unternehmens ist in mancher Hinsicht auf der seelischen Ebene vergleichbar mit einem eigenen Kind.

Aber auch für Nachfahren der Gründer können solche Familienbetriebe eine seelische Relevanz haben. Über das Unternehmen wirkt auf die Nachfahren der Geist der Ahnen. Die Entscheidung, seinen beruflichen Weg in diesem Familienunternehmen zu gestalten oder eben nicht, ist dann nicht mehr dasselbe wie wenn ich mich im Rahmen von Bewerbungen für den einen oder anderen Arbeitgeber entscheide, mit dem ich aber ansonsten nicht weiter verbunden bin. Die Entscheidung gegen eine Position in einem Familienunternehmen kann sich wie eine Entscheidung gegen die Vorfahren anfühlen. Und in manchen Fällen stellt es sich in einer Aufstellung so dar, dass für den beruflichen Erfolg außerhalb des Familienunternehmens nicht nur das Einverständnis und der Segen der Eltern nötig ist, sonder also ob auch der ausdrückliche Segen des Unternehmens erforderlich ist, um wirklich frei zu sein für eine Tätigkeit außerhalb des Familienbetriebes.

Mir scheint auch, dass ein solcher Einfluss besonders bei landwirtschaftlichen Betrieben besonders stark ist. Ich erinnere mich an eine Aufstellung, die für den Sohn eines Landwirtes durchgeführt wurde. Dieser hatte den väterlichen Hof, der seit Generationen im Familienbesitz bewirtschaftet wurde, nicht übernehmen wollen. Er war zum Studieren in eine Großstadt gezogen, hatte das Studium sehr erfolgreich absolviert, hatte aber große Schwierigkeiten in dem entsprechenden Berufsfeld Fuß zu fassen. In dieser Aufstellung haben wir auch den Hof aufgestellt und es war deutlich, dass es der Hof war, viel mehr als der Vater des Klienten, dem es wichtig war, dass der Hof in der Familientradition weiter geführt wurde. Es fiel dem Hof sehr schwer, sich mit der Vorstellung anzufreunden, dass er in naher Zukunft verkauft und in neue Hände übergehen würde. Und es sah so aus, also ob diese seelisch-geistige Wirkung des Hofes einen beruflichen Erfolg des Klienten in dem fremden Berufsfeld abseits der Landwirtschaft behindern würde. Er hat dann im Rahmen der Aufstellung den Hof gebeten, ihn frei zu geben für eine andere berufliche Tätigkeit. Dies kostete den Hof – in der Empfindung des Stellvertreters – einige Überwindung. Aber als der Hof sich dazu durchrungen hatte, dem Klienten den Segen zu geben für den beruflichen Erfolg abseits der Landwirtschaft, hatte dies eine entscheidende Stärkung und Erleichterung bei dem Klienten zur Folge.

Der Wechsel des beruflichen Tätigkeitsfeldes

In diesem Zusammenhang möchte ich auch noch etwas erwähnen, was ich in Aufstellung immer wieder einmal sehen konnte und bei dem man es auch mit Gestalten in der Aufstellung zu tun hat, die nicht wirklich menschliche Personen sind.

Wenn ein Mensch nach längerer Zeit in einem bestimmten beruflichen Feld sich dazu entschließt, einen Neuanfang in einem ganz anderen beruflichem Tätigkeitsgebiet zu betreiben, dann ist auch hier in vielen Fällen für das Gelingen der Segen des alten Berufes wichtig. Natürlich wechselt man ein berufliches Feld nur dann, wenn man mit der bisherigen beruflichen Tätigkeit nicht mehr zufrieden ist oder nicht mehr gut zu Recht kommt. Bei einer solchen Entscheidung wird ein Mensch daher natürlich meist keine besonders guten Gefühle für die bisherige Tätigkeit hegen. Es ist ja das, wovon ich weg möchte. Vielleicht, weil es mich nicht mehr erfüllt. Vielleicht weil mir die Sinnerfüllung in dieser Tätigkeit abhanden gekommen ist.

Es ist also nicht gerade naheliegend, sich positiv auf diese Tätigkeit und dieses Berufsfeld zu beziehen. Aber gerade dann erweist sich (meist) als notwendig, sich noch einmal in Dankbarkeit dem Beruf, den ich zu verlassen gedenke, zuzuwenden. Es geht um die Dankbarkeit dafür, was mir der alte Beruf gegeben hat und war mir ermöglicht hat, gerade wenn ich länger in ihm tätig war. Im Kern geht es darum, dem alten Beruf, vertreten durch eine Stellvertreterperson, noch einmal in die Augen zu schauen und zu sagen: „Danke, dass du mich all die Zeit ernährt hast, mir ermöglicht hast, meinen Lebensunterhalt zu bestreiten!“ Das ist ja nicht gerade unwichtig. Und manchmal ist vielleicht auch ein Dank angebracht für das, was man in diesem Beruf lernen konnte und durfte.

Auch hier wirkt es sich günstig aus, wenn der alte Beruf mir den Segen erteilt für den Erfolg im neuen Beruf. In der Tat ist es oft so, dass der Stellvertreter für den neuen Beruf in der Aufstellung erst dann eine gute Beziehung zum Klienten aufbaut, wenn dieser sich in Dankbarkeit vom alten Beruf verabschiedet und dessen Segen erhalten hat.

Unpersönliche Gestalten in einer Aufstellung: Krankheiten und Symptome

Im letzten Blogbeitrag ging es am Beispiel von Ländern oder auch Gegenden um überpersönliche, also kollektive Gegebenheiten, die wie eine Person in einer Aufstellung aufgestellt werden. In ähnlicher Weise soll es in diesem Beitrag um Krankheiten bzw. Symptome gehen, die man in einer Aufstellung durch eine Stellvertreterperson einführen kann und manchmal auch muss. Ich spreche hier von unpersönlichen (statt von überpersönlichen) Gestalten. Wenn wir eine Krankheit oder auch ein Symptom benennen, ist dies natürlich nicht wirklich eine Person, auch wenn eine Person als Stellvertreter dafür aufgestellt wird. Die Krankheit ist etwas eher Abstraktes, etwas Unpersönliches. Aber sie ist nicht in dem Sinne kollektiv, dass alle konkreten Menschen einer bestimmten Menschengruppe eben dazu gehören. Eine bestimmte Krankheit befällt bestimmte Menschen, andere aber nicht. Und auch die Ausprägung der Symptomatik kann individuell sehr verschieden sein.

Wann und warum stellt man Krankheiten oder Symptome auf?

Natürlich ist es oft so, dass eine Erkrankung oder Symptomatik überhaupt der Anlass für eine Aufstellung ist, das Anliegen der Aufstellung ist also dadurch bestimmt. Das bedeutet aber nicht zwingend in jedem Fall, dass man bei solchen Anliegen auch die Krankheit oder das Symptom als eigenständige Position einführen muss. Generell scheint mir, dass man sich bei Krankheiten / Symptomen in einer Aufstellung davor hüten sollte, hier zu „medizinisch“ zu denken oder die Aufstellung als eine Art von „Behandlung“ oder Therapie zu sehen[1].

Bei einer Aufstellung geht es ja – zumindest in meinem Verständnis – um die Bewegungen der Seele. Und das wäre die Leitfrage: Benötige ich in diesem konkreten Fall wirklich die Krankheit als Position in der Aufstellung, um die damit verbundene seelische Bewegung und die mögliche Lösung, wo also die Seele hin will, aufzuzeigen und somit der Person, um die es geht, eine Erleichterung zu verschaffen? Das ist nicht immer der Fall. Das mag erst einmal irritierend klingen. Man könnte ja denken: Ja, wenn es doch um die Krankheit geht, welche den Lebensvollzug einschränkt, wie kann es dann sein, dass die Krankheit nicht aufgestellt wird?

Die Krankheit / das Symptom und der Bezug zur Herkunftsfamilie

Sehr oft ist es so, dass bei einer schwerwiegenden Erkrankung der Bezug zur Herkunftsfamilie unmittelbar augenfällig ist. Wenn z.B. eine Frau an Brustkrebs erkrankt ist und man fragt: „Hatten andere Personen in deiner Herkunftsfamilie auch mit einer Brustkrebserkrankung – oder allgemeiner: mit einer Krebserkrankung überhaupt oder noch allgemeiner: mit einer schweren und lebensbedrohlichen Erkrankung – zu tun?“ und die Antwort dann wäre, dass sowohl die Mutter wie auch die Mutter Brustkrebs hatten und die Großmutter auch daran verstorben ist, dann ist die Hypothese einer systemischen Verstrickung sehr naheliegend.

In diesem Fall würde man vielleicht die Klientin, deren Mutter und deren Großmutter aufstellen. Und es könnte sich zeigen, dass die Seele der Klientin den Brustkrebs als Mittel benutz, um den weiblichen Ahnen nahe zu sein, um mit den weiblichen Ahnen verbunden zu sein und vielleicht auch, um etwas für die weiblichen Ahnen mitzutragen. Und die Lösung wäre vielleicht, dass die Klientin zu den weiblichen Vorfahren etwas sagt: „Ich sehe und achte euer schweres Schicksal!“ Und dann vielleicht an die Vorfahrinnen gewandt noch sagt: „Bitte, segnet mich, wenn ich vollständig gesunde!“ oder auch „Ich bleibe mit euch verbunden, auch ohne die Erkrankung!“

In so einem Fall benötigt man nicht unbedingt die Erkrankung selber als eigenständige Position in der Aufstellung, auch wenn natürlich in meinem Beispiel der Brustkrebs im Feld präsent ist. Aber wir müssen in diesem Fall vielleicht nicht den Brustkrebs als stellvertretende Wahrnehmung dabei haben, um etwas über die Intention des Brustkrebses zu erfahren.

Ich schreibe das hier bewusst vorsichtig in der Formulierung. Das Gesagte soll eben nicht bedeuten: Immer wenn der seelische Hintergrund der Erkrankung eine Verstrickung im Familiensystem bedeutet, eine „ich folge dir nach“ Struktur sich zeigt, man eben die Krankheit selbst oder die Symptomatik nicht aufstellt. Mitunter kann es sich auch in solchen Fällen als hilfreich oder gar notwendig erweisen, die Krankheit aufzustellen, weil sich darüber etwas näher klären lässt, in welcher Weise genau die Erkrankung für die Seele der Ahninnen wichtig war und vielleicht auch dann ähnlich bei der Klientin für die Seele wichtig ist.

Die Krankheit / das Symptom und der jetzige Lebensbezug

In anderen Fällen zeigt sich bei einem Aufstellungsanliegen vielleicht kein (deutlicher) Bezug zum familiären Herkunftssystem. Es erscheint eher so, als ob es für die Seele bei der Erkrankung darum ginge, einen inneren Konflikt zum Ausdruck zu bringen oder eine grundlegende Entscheidung in Bezug auf die Lebensführung zu befördern oder vielleicht auch, über die Erkrankung mit schicksalhaften Kräften in Berührung zu kommen. In so einem Fall schauen wir dann in der Aufstellung nicht auf die Herkunft der Person, um die es in der Aufstellung geht, sondern auf die jetzige Lebenssituation der Fokusperson in der Aufstellung. Welche Entscheidungen stehen hier an? Welche Entwicklungsprozesse und Reifungsstufen stehen vielleicht in Zusammenhang mit der Erkrankung? Wie ist es mit dem Lebenssinn der Fokusperson bestellt? Oder auch: Was wird durch die Erkrankung verhindert, was würde ich sofort tun, wenn die Erkrankung nicht wäre?

In solchen Fällen ist die Erkrankung oder das Symptom als Position in der Aufstellung oft sehr hilfreich. Man kann dann über die Stellvertreter, ihre unmittelbaren Reaktionen aber auch ihre Antworten auf Fragen, Hinweise darauf bekommen, was das eigentliche Anliegen der Erkrankung ist. Worauf möchte die Erkrankung mich aufmerksam machen? Was möchte die Erkrankung bei mir verhindern?

Ebenso spielt hier die Frage eine Rolle: Ist es überhaupt etwas „Persönliches“ in einem engeren Sinne? Geht es der Erkrankung wirklich im Kern um diese konkrete Person? Oder hat sich die Erkrankung im Lebensraum dieser Person niedergelassen, weil es nun mal „ihr Job“ ist, eine bestimmte Anzahl von Menschen zu befallen und diese Person gerade gut verfügbar war? So etwas zeigt sich in der Aufstellung, wenn man die Stellvertreterperson für die Erkrankung danach befragt, wie es ihr mit der Fokusperson in der Aufstellung geht.

Aber auch hier ist es so: Man kann hier keine Regel formulieren etwa in dem Sinne, immer wenn eine Erkrankung das Thema der Aufstellung ist und es nicht zentral um eine Familiensystemdynamik dabei zu gehen scheint, soll man die Erkrankung aufstellen. Auch ohne eine Verankerung des Themas in der Herkunftsfamilie und dem Ahnensystem könnte eine solche Aufstellung ohne eine explizite Stellvertreterperson für die Erkrankung auskommen. Es könnte sein, dass man vielleicht eine Entscheidungssituation aufstellt, also z.B. eine Stellvertreterperson für die eine Alternative und eine andere Stellvertreterperson für die andere Alternative der Entscheidung. Oder man stellt einen inneren Konflikt auf, der mit der Erkrankung zusammen hängt. Oder vielleicht stellt man auch „das Schicksal“ auf. Das wäre dann viel größer und umfassender als die konkrete Erkrankung.

Die Krankheit oder das Symptom aufstellen?

Ich habe bislang immer austauschbar über „die Krankheit“ bzw. „das Symptom“ gesprochen. Mein Eindruck aus den Aufstellungen ist: Dies ist nicht ganz dasselbe. Es macht einen Unterschied, ob ich die aufgestellt Gestalt als eine bestimmte Krankheit aufstelle oder als ein konkretes Symptom. Dieser Unterschied ist auch für die entsprechenden Stellvertreter wichtig. Mir scheint, es macht auch hier einen Unterschied, ob ich mich in eine Krankheit oder in ein Symptom einfühle.

Worin liegt nun dieser Unterschied? Das finde ich schwer zu beschreiben. Die Entscheidung in einer Aufstellung fällt ja auch nicht anhand von irgendwelchen Überlegungen, sondern in welche Richtung die Mitteilungen aus dem Feld gehen. (So sollte es zumindest sein.) In der Leitung einer Aufstellung spüre ich meist schon in der Vorbesprechung deutliche innere Signale, ob hier die Krankheit oder das Symptom aufgestellt werden soll. Aber ich könnte das in der Situation oft nicht wirklich begründen, warum das eine oder das andere.

Rückblickend kann ich vielleicht ein paar grobe Tendenzen beschreiben, aber das ist für mich noch sehr hypothetisch. Vielleicht fällt die Wahl eher auf das Symptom statt auf die Krankheit, wenn es zentral darum geht, was wird durch die Erkrankung verhindert oder auch wird durch die Krankheit ermöglicht für die von der Erkrankung betroffene Person? Dieser Aspekt wäre ziemlich „handlungsnah“. Es geht um die ganz praktische und alltägliche Lebensführung.    
Dagegen würde die Wahl vielleicht eher auf „Krankheit“ statt „Symptom“ fallen, wenn es eher um den Lebenssinn der Fokusperson geht oder auch, wenn über die Erkrankung sich so etwas wie eine „Reifungskrise“ ausdrückt, wenn also ein Mensch einen Übergang in eine grundlegend neue Lebensphase durchlebt und die Erkrankung bei der „Initiation“ in diese neue Lebensphase mitwirkt.

Aber das sind von meiner Seite aus vorläufige und tastende Versuche, den Unterschied zu beschreiben. Und die Beschreibung ist vielleicht nicht mehr als der Ausdruck meines derzeitigen Standes im Irrtum. Es ist für die Aufstellung auch nicht wichtig, zu verstehen, warum genau im Einzelfall entweder die Krankheit oder das Symptom aufgestellt wird, solange aus dem wissenden Feld klare Signale für das eine oder das andere vernehmbar sind.

Die Krankheit / das Symptom als Freund und Begleiter

Ein letzter Punkt scheint mir bei diesem Thema noch wichtig. Wenn in einer Aufstellung eine Krankheit oder ein Symptom über eine Stellvertreterperson aufgestellt wird, ist es in den allermeisten Fällen im Verlauf der Aufstellung so, dass die Fokusperson sich bei der Krankheit bzw. bei dem Symptom bedankt. Dies mag verwundern, weil man ja üblicherweise die Krankheit oder das Symptom eher „weg haben“ möchte. Wir möchten, dass die Krankheit oder das Symptom eben nicht in unserm Leben präsent ist. Vielleicht möchten wir die Krankheit oder das Symptom auch bekämpfen. Der Gedanke, mich bei diesem Gegner auch noch zu bedanken, erscheint bei dieser Intention absurd.

Und doch ist es so, dass der Dank an die Krankheit oder an das Symptom sehr oft eine entscheidende Rolle bei der Lösung spielt. Mit der Dankbarkeit, so sieht es in der Aufstellung oft aus, kann sich die Krankheit oder das Symptom dann auch zurückziehen.

Warum ist das so? Vielleicht können wir sagen, die Erkrankung hilft uns, auf ein bestimmtes Thema aufmerksam zu werden. Die Erkrankung unterstützt uns bei grundlegenden Lebensveränderungen. (Weil: Ohne dies würden wir diese Veränderungen nicht vornehmen.) Und letztlich ist eine schwerwiegende Erkrankung natürlich auch ein langfristiger Begleiter in meinem Leben, ein treuer Begleiter. Hört sich das zynisch an? Ich meine es nicht zynisch. Aber es ist ja eine Tatsache: Eine schwere Erkrankung ist eine Herausforderung! Und wie bei vielen anderen Dingen auch, die für uns schwer und herausfordernd sind, kann man zumindest rückblickend meist ganz gut angeben, warum und in welcher Weise mir diese Herausforderung genutzt hat. Vorausgesetzt natürlich, die Herausforderung war keine Überforderung. Aber auch dies kann meist nur rückblickend entschieden werden.

Ich hatte ja oben davon gesprochen, dass wir natürlich dazu neigen, die Erkrankung als Gegner bekämpfen zu wollen. Dies ist auch die medizinische Denkweise und hier hat sie auch eine gewisse Berechtigung. Vielleicht können wir die Gegnerschaft aber auch so sehen, wie einen Gegner z.B. im Schachspiel oder in einer Sportart wie z.B. Tennis. Wenn wir an diese Dinge denken, ist es überhaupt nicht absurd, wenn ich mich etwa nach einer interessanten Schachpartie bei meinem Gegner bedanke. Er, der Gegner, hat mich vielleicht in dieser Partie an die Grenzen meiner Fähigkeiten gebracht und vielleicht sogar ein kleines Stück darüber hinaus. Und für das, was ich da lernen durfte und für den Anreiz für meine Weiterentwicklung kann ich mich durchaus bedanken, da ist überhaupt nichts Absurdes dabei.
Diese Sichtweise würde natürlich auch bedeuten, das Leben insgesamt (auch!) als Spiel zu betrachten. Ein großes Spiel, ein durchaus oft sehr ernstes Spiel – aber eben doch auch ein Spiel. Und was wäre ein solches Spiel wie Schach ohne einen Gegner?


[1] In einem anderen Beitrag hatte ich etwas dazu geschrieben, ob man eine Familienaufstellung als Therapie ansehen kann bzw. ob Aufstellungen eine Therapiemethode sind. Hier hatte ich die Ansicht vertreten, dass Aufstellungen nicht wirklich eine Therapie oder Therapieform sind, aber profunde therapeutische Wirkungen haben können. Diese therapeutischen Wirkungen stellen sich aber paradoxerweise eher dann ein, wenn man sich von einem therapeutischen Denkansatz, in dem es um die Beseitigung einer Störung geht, löst.

Überpersönliche Gestalten in einer Aufstellung: Das Land als Heimat

Mitunter erweist es sich in einer Aufstellung als notwendig für ein bestimmtes Thema, nicht nur Stellvertreter für die Person selbst und z.B. wichtige Mitglieder der Herkunftsfamilie aufzustellen, sondern in die Aufstellung auch als Position etwas einzuführen, was überpersönlich ist. Dies kann etwa das Herkunftsland sein, wenn jemand oder seine Familie das Herkunftsland und dessen Kultur verlassen hat und in ein anderes Land und eine andere Kultur migriert ist.

Wenn wir solch eine Position in einer Aufstellung haben, spreche ich von „Gestalten“, um damit auszudrücken, dass es sich hier nicht um konkrete Personen handelt, sondern um etwas Überpersönliches oder etwas Kollektives.    
In einer Aufstellung geht es ja um Bewegungen der Seele und in unserer Seele – in jedem Menschen – hausen eben auch Gestalten und damit verbundene seelische Kräfte, die nicht oder nicht nur mit konkreten Personen aus meiner Herkunftsfamilie verbunden sind, sondern die einen übergreifenden Charakter aufweisen.

In diesem Beitrag will ich mich damit beschäftigen, in welcher Weise Länder in einer Aufstellung eine Rolle spielen (können). Andere solche überpersönlichen Gestaltungen in der Seele können die sogenannten „Archetypen“ sein. Dies sind mythologische Figuren, die wir aus Märchen, Sagen und Göttervorstellungen kennen und die im kollektiven Unbewussten von Menschen verankert sind. Ebenfalls unpersönlich bzw. überpersönlich kann man manchmal auch eine Krankheit als Position in eine Aufstellung einführen, oder auch ein Unternehmen oder eine Ideologie oder dergleichen, wenn es seelische Bedeutsamkeit hat und für das Anliegen, welches in der Aufstellung bearbeitet wird, wichtig ist.

Hier soll es aber – wie gesagt – um Länder gehen. Und dies muss ein wenig erläutert werden, weil hier Missverständnisse möglich sind, durch welche dann mit einem Mal alles falsch wird. Hier wäre zuallererst auf den Unterschied zwischen Land und Staat einzugehen.

Land und Staat

In einer Aufstellung interessiert uns die Wirkung, die ein Land auf meine Seele hat. Und hier müssen wir, nach dem Eindruck, den ich bislang in Aufstellungen gewonnen habe, zwischen Land und Staat unterscheiden. Ein Staat ist im Kern ein verwaltungstechnisches Konstrukt, welches bestimmt, welchen gesetzlichen Bestimmungen ich unterliege und welche Steuern ich an welche Institution zu zahlen habe, wenn ich in diesem Staat wohne. Ein Staat hat aber keine Seele und damit keine seelische Qualität in der Wirkung auf seine Einwohner. Anders sieht es mit einem Land aus, wenn wir damit das Lebensgebiet einer Bevölkerung meinen, die durch eine gemeinsame Sprache, eine gemeinsame Kultur, gemeinsame Bräuche und vielleicht auch gemeinsame Geschichten und Mythologien verbunden ist. Dies hat eine seelische Qualität und somit auch seelische Auswirkungen, die wir vor allem damit verbinden, was wir unsere Heimat nennen.

Die seelische Wirkung von einem Land als Heimat ist natürlich auch über meine Familie vermittelt. Hier wäre vor allem die Muttersprache zu nennen, die wir erlernen in der frühen Kindheit. Allein das Wort „Muttersprache“ verweist ja sehr deutlich auf die Mutter, also auf einen Elternteil. In einem weiteren Sinn kann man vielleicht auch sagen, wo meine Heimat ist, wird dadurch bestimmt, wo die Gebeine meiner Vorfahren in der Erde liegen. So hat es zumindest Bert Hellinger einmal ausgedrückt. In der Familienaufstellung geht es bei den Vorfahren ja immer um meine Wurzeln, und die Gegend auf diesem Globus, wo die Vorfahren beerdigt sind, verwurzelt uns somit seelisch mit dieser Gegend, diesem Landstrich und den dortigen Sitten und Gebräuchen.

Auch hier sieht man – wie ich finde – den Unterschied zu einem Staat. Ein bestimmtes Land mit seinem Volk und seiner Kultur kann im Rahmen von geschichtlichen Prozessen zum Beispiel von einem anderen Staat erobert und in das Staatsgebiet eingegliedert werden. In der Seele bleibt das Land aber über Sprache und Kultur präsent. Um ein Beispiel zu nennen: Durch die historischen Teilungen hat es Polen in verschiedenen Phasen der Geschichte als Staat nicht gegeben, das Gebiet und seine Bevölkerung wurden staatlich z.B. zwischen Preußen, Russland und Österreich aufgeteilt. Trotzdem lebte das polnische Volk und sein Sprache und Kultur natürlich weiter. Und dieser Aspekt ist der seelisch relevante, Politik, Verwaltung und Staatsgrenzen interessieren die Seele nicht. (Obwohl sie natürlich praktisch im Alltagsleben große Auswirkungen haben können.)

Die Wirkungsweise von Ländern in der Seele

In einer Aufstellung behandeln wir Länder – im Sinne eines Sprach- und Kulturraumes – wie Personen. Das bedeutet, für die Aufstellung wird eine Stellvertreterperson ausgewählt, in der Aufstellung platziert und nach ihren Emotionen, ihrem Befinden und ihren Beziehungen zu anderen Positionen der Aufstellung befragt. Allerdings handhabe ich es meist so, dass ich Länder bzw. die Stellvertreter für Länder in einer Aufstellung auf einen Stuhl stelle. Da es sich hier um etwas handelt, was kollektiv ist, ist diese Gestalt in einer Aufstellung größer als jede einzelne Person und dies kann man eben dadurch adressieren, dass die Stellvertreterperson auf einem Stuhl steht.

Was sich in Aufstellungen zeigt ist, dass Länder gegenüber den ihnen zugehörigen Personen oft wie Eltern gegenüber ihren Kindern empfinden. Noch genauer: Eigentlich wie eine Mutter gegenüber ihren Kindern, weshalb meinem Eindruck nach Länder in einer Aufstellung auch eine deutlich weibliche Qualität haben.

Und was möchte eine Mutter normalerweise für Ihre Kinder? Sie möchte, dass es Ihnen gut geht, dass sie sich entwickeln können, dass sie ein erfülltes Leben haben. Ein Land leidet, wenn es der Bevölkerung – aus welchem Grund auch immer – nicht gut geht. In vielen Fällen – allerdings nicht immer – ist ein Land auch traurig, wenn seine Kinder, die Landeskinder, das Land verlassen oder verlassen müssen. Aber diese Trauer ähnelt eher dem manchmal durchaus etwas wehmütigen Abschiedsschmerz, den Eltern empfinden mögen, wenn ein Kind das Elternhaus verlässt um in die Eigenständigkeit des eigenen Lebens aufzubrechen. Und Länder erfreuen sich daran, wenn es den Landeskindern im fremden Land gut geht. Es erscheint mir manchmal so, als ob das Land sagen würde: „Durch dein Dasein und dein Wirken im fremden Land: Künde dort von mir!“. (Aber vielleicht ist das auch nur eine Vorstellung oder ein Phantasie, welche ich an den Prozess herantrage, ich bin mir da nicht ganz sicher.)

Was ich aber häufiger schon erlebt habe: Es ist einem Land sehr recht, wenn die Landeskinder, auch wenn sie ihr ganzes Leben oder einen großen Teil ihres Lebens in der Fremde verbracht haben, nach dem Ableben in der Erde dieses Landes beerdigt werden.

Das Kind mit Eltern aus zwei unterschiedlichen Kulturen

Nun gibt es natürlich auch oft die Situation, dass sich zwei Menschen mit unterschiedlichen Heimatländern zusammen tun und gemeinsam ein Kind (oder auch mehrere Kinder) haben. Wie verhält es sich hier? Hier habe ich es mehrfach erlebt, dass es sich gut auswirkt für diese Kinder, wenn sie auf die beiden Heimatländer der Eltern schauen und zu jedem Heimatland sagen können: „Ich bin eines deiner Kinder. Und ich gehöre aber auch – gleichzeitig – zu jenem anderen Land.“

In diesem Fall ist es auch nicht ganz unwichtig, wie die Beziehung der beiden Länder untereinander sich gestaltet. Ich habe da auch schon gewisse Eifersüchteleien zweier Länder erlebt bei der Frage, zu wem denn nun dieses Menschenkind „eigentlich“ oder zumindest stärker gehört.

Variation des Themas: Das Gebiet

Im Rahmen von Aufstellungen in den letzten knapp 25 Jahren habe ich aber noch ein anderes Phänomen beobachten können, das ähnlich wie ein Land / Volk / Kulturraum reagiert, aber ohne Bezug auf ein konkretes Volk bzw. eine konkrete Kultur.

Manchmal verhalten sich besondere Gebiete oder Regionen, etwas was man in einem Nationalstaat vielleicht als Provinz bezeichnen könnte, zu ihren Bewohnern und den Menschen, die dort geboren werden und aufwachsen wie Länder zu ihren Landeskindern.

Ein prägnantes Beispiel, dass ich bereits häufiger in Aufstellungen erleben durfte, wäre Schlesien. Diese Gegend fungiert öfter für Menschen als Heimat (im Sinne von: wo meine Vorfahren lebten und begraben sind) unabhängig von Sprache, Kultur und Nationalität. Oder besser gesagt: Übergreifend über Sprache, Kultur und Nationalität. Ich habe das schon bei hier in Deutschland lebenden Polen erlebt, wo sich als wirksamer Bezugspunkt in Bezug auf Heimat eben nicht „Polen“, sondern „Schlesien“ ergab. Und ganz ähnlich bei Deutschen, deren Vorfahren in Schlesien lebten und welche vielleicht geflüchtet sind oder vertrieben wurden.

Hier scheint es so, als ob die Gestalt Schlesien auch Landeskinder hat und sie ist diesen ihren Landeskindern gleichermaßen zugewandt, völlig unabhängig davon, ob die Sprache und Kultur dieser Landeskinder polnisch, deutsch oder auch böhmisch, tschechisch oder was auch immer sein mag. Die Zugehörigkeit dieses Gebietes Schlesien zu Staaten oder (König)Reichen war ja in der Geschichte höchst wechselhaft, mal gehörte das Gebiet zu Böhmen, mal zu Preußen, mal zur österreichischen K&K-Monarchie, mal zu Polen und mitunter in unterschiedlichen Aufteilungen zu Mehrerem gleichzeitig.

Vielleicht, aber das ist nur eine Vermutung, bildet sich eine solche eigenständige Identität einer Region, eigenständig gegenüber Ländern als Sprach- und Kulturräumen und dann eben auch eigenständig in der seelischen Wirksamkeit, besonders dann heraus, wenn diese Region für lange Zeit umkämpft und umstritten war und diese Region dann auch von unterschiedlichsten Volksgruppen besiedelt wurde?

Variation des Themas: Der Bauernhof

Ich habe es auch einmal in einer Aufstellung erlebt, dass das Land eine zentrale Rolle für die Aufstellung spielte, aber in einer sehr viel kleineren Einheit, was das Land anging. In dem Fall ging es nämlich um einen Bauernhof und das zugehörige zu bewirtschaftende Land. Der Mann, für den wir die Aufstellung gemacht haben, stammte aus einer Bauernfamilie und das Land, welches sein Vater als Landwirt bewirtschaftet, war schon seit Generationen im Familienbesitz. Eigentlich wäre dieser Mann als Nachfolger seines Vaters vorgesehen gewesen, also dass er den Hof erbt und den bäuerlichen Betrieb weiterführt.

Er hat sich dann aber dagegen entschieden und stattdessen das Dorf und den Bauernhof verlassen, um in einer Großstadt zu studieren. Hier hat er auch sehr erfolgreich einen sehr guten Abschluss gemacht, hatte allerdings danach die schwer erklärliche Situation, dass er trotz bester Qualifikation beruflich nie wirklich erfolgreich sein konnte in seinem Beruf.

In der Aufstellung hatten wir dann irgendwann einen Stellvertreter für den Bauernhof und das damit verbundene Land eingeführt in die Aufstellung. Und es ergab sich die Lösung dadurch, dass der junge Mann den Hof intensiv anschaute und ihm in etwa sagte: „Ich bin bei dir auf die Welt gekommen und groß geworden. Du hast viele meiner Vorfahren mit einem Einkommen und einem Lebenssinn versorgt. Dafür danke ich dir! Es fällt mir auch nicht leicht, mich von dir zu lösen, aber mein Lebensweg ist ein anderer. Mich ruft beruflich etwas Anderes.“ Der Hof war sehr traurig und äußerte etwas in der Art: „Ich wäre gerne weiter mit deiner Familie verbunden geblieben, mit dir in der nächsten Generation und vielleicht auch darüber hinaus mit einem Sohn von dir.“ Der entscheidende Schritt war dann, als der junge Mann den Hof bat: „Bitte segne mich, wenn ich in einem anderen Beruf erfolgreich werde!“ und der Hof diesen Segen, durchaus mit schwerem Herzen aber trotzdem von Herzen erteilte.

Hier wirkte auch das Land und die Heimat (und auch die Familientradition) deutlich in die Seele dieses Mannes hinein. Allerdings nicht in der größeren Form als Land und Heimat eines ganzen Volkes, sondern in der kleineren Form als Hof und Land und Heimat einer Familie.

Die seelischen Urwunden – Teil 9: Eine Rückschau

Ich beschließe diese kleine Serie von Blogbeiträgen zu seelischen Urwunden mit einer Rückschau. Wir starteten damit, einen Betrachtungsrahmen aufzuspannen. Es ging dabei um die Frage, was braucht ein Mensch, der als Baby auf die Welt kommt, um sich gut und seiner Eigenart gemäß zu entwickeln. Es ist ja so, dass der Mensch unter allen Säugetieren die längste Adoleszenz aufweist und damit auch eines großen Maßes an Betreuung und Fürsorge in der Entwicklung bedarf. Der Bezugsrahmen für das Thema seelische Urwunden war nun die Überlegung, wie sollte ein neuer Mensch am Anfang seiner Entwicklung idealerweise in dieser Welt willkommen geheißen werden?

Es soll hier noch einmal darauf hingewiesen werden, dass dieser Bezugsrahmen idealisiert ist. Und ein Ideal ist in der Realität nicht perfekt zu erreichen. Es geht auch weniger darum, etwa den Eltern oder der Gesellschaft oder wem auch immer die Schuld zu geben. Der Bezugsrahmen diente nur dazu, vor dem Hintergrund dieser Folie zu beschreiben, wenn man so will, was alles schief gehen kann. Noch genauer: Was alles auf einer grundlegenden, existenziellen Ebene schmerzlich vermisst werden kann. Wobei – auch dies sei hier noch einmal betont – wir von einem Fehlen von gedeihlichen Bedingen sprechen, welche wirklich schwerwiegend und dauerhaft sind, welche die natürlichen Bedürfnisse des Kindes bedeutsam verletzt, das Ur-Vertrauen signifikant in der einen oder anderen Weise erschüttert. Dann entsteht im Prozess des Heranwachsens eben eine Ur-Wunde, ein manchmal lebenslang bleibender wunder Punkt.

Vor dem Hintergrund dieser Folie wurden die folgenden sieben Urwunden in einzelnen Beiträgen beschrieben:

  • Verlassen werden / getrennt werden
  • Nicht gesehen werden, nicht beachtet werden
  • Verkannt oder verwechselt zu werden
  • Nicht oder nicht vollständig da sein dürfen (Du bist zuviel!)
  • Betrogen zu werden, hintergangen zu werden
  • Gedemütigt werden oder eklatante Ungerechtigkeit zu erleben
  • Nicht oder nicht genug geliebt zu werden.

Man kann hier natürlich fragen: Sind es genau diese sieben Urwunden, die es gibt? Oder auch: Hängen diese Urwunden nicht auch miteinander zusammen, was sicherlich richtig ist. Man könnte auch fragen: Ist nicht die letztgenannte Urwunde, nicht oder nicht genug geliebt zu werden, die zentrale Urwunde, alles andere nur konkrete Ausformungen davon? Dies mag alles sein. Es ist sicherlich kein trennscharfes oder gar diagnostisches System. Es sind beobachtbare Phänomene, die sich sicherlich auch anders benennen oder gruppieren lassen.

Urwunden als Entwicklungstraumata

Was hier mit der Bezeichnung Urwunde bezeichnet wurde, lässt sich auch als Trauma oder Traumatisierung beschreiben. Wir reden hier von Entwicklungstraumata im Gegensatz zum Schocktrauma. In so fern wäre für alle angeführten Urwunden etwas Generelles nachzutragen. Jeder einzelne Blogbeitrag zu jeder einzelnen Urwunde hat ja am Ende einen Teil, der sich damit befasst, was hier helfen kann. Und da gilt eben für alle erwähnten Urwunden gemeinsam, dass hier alle Methoden helfen, die sich mit der Heilung von Entwicklungstraumata beschäftigen. Und dies ist ein weites Feld …

Seelische Urwunden als spezifische Ausformung eines Entwicklungstraumas aufzufassen, bringt uns aber auch noch auf eine andere Spur, die für alle genannten seelischen Urwunden gleichermaßen gilt.

Überlebensstrategien statt Leben

Entwicklungstraumata bewirken, dass ein Mensch sich bestimmte Überlebensstrategien aneignet. Diese helfen, den existentiellen Mangel auszuhalten, ihn teilweise zu kompensieren. Diese Überlebensstrategien waren, zu dem Zeitpunkt, wo sie erlernt wurden, wichtig und meist notwendig. Viele dieser Überlebensstrategien bestehen darin, etwas zu verleugnen, zu verdrängen und sich unempfindlich zu machen gegen seelische Schmerzen. Diese Überlebensstrategien waren einmal eine Lösung. Sie waren oft die einzige Lösung, die einem Kind, besonders einem kleinen Kind, zur Verfügung stand.

Später, im Leben als Erwachsener, erweisen sich diese gelernten Überlebensstrategien aber oft als einschränkend und hinderlich, als dysfunktional. Um wirklich vollständig zu leben, müssen die Überlebensstrategien der Vergangenheit losgelassen werden. Und dies ist nicht so einfach.

Eine Schwierigkeit ist, dass wir uns mit unseren Überlebensstrategien sehr identifiziert haben. Wenn wir hier umlernen, unsere Spielräume erweitern und unser Leben vollständiger leben wollen, erleben wir – zumindest am Anfang – ein sehr unvertrautes Gefühl. Es kann sein, dass wir merken, es geht uns besser – aber gleichzeitig fühlt es sich irgendwie wie „Nicht-Ich“ an. Und das alleine ist beunruhigend. Es gibt einen Teil des Nervensystems, der unbedingt am Vertrauten festhalten möchte, auch wenn es negativ ist. Aber es ist eben bekannt und für diesen Teil des Nervensystems ist das Bekannte gleichbedeutend mit Sicherheit. Alles andere ist bedrohlich, weil es unbekannt ist. Jede ernsthafte Veränderung muss sich, zumindest eine Zeit lang, mit dem Gefühl mangelnder Vertrautheit konfrontieren und dieses Gefühl aushalten, den Rückstellkräften zum Alten widerstehen.

Eine andere Schwierigkeit liegt darin begründet, dass die Aufgabe einer Überlebensstrategie uns mit dem Schmerz von damals in Kontakt bringt. Der Sinn der Überlebensstrategie ist ja gerade, einen zu großen, nicht bewältigbaren Schmerz nicht fühlen zu müssen. Wenn eine Überlebensstrategie losgelassen wird, muss oft der Schmerz, der damals vermieden wurde zu fühlen, noch einmal gefühlt werden. Wir müssen diesem Schmerz erlauben, sich zu entfalten und durch unseren Körper zu fließen, wir müssen ihm erlauben, da zu sein. Wir müssen uns trauen, diesem Schmerz jetzt fühlend unsere Aufmerksamkeit zu schenken. Das ist nicht leicht und bedarf oft einer kundigen Begleitung. Wir brauchen hier ein heikle Balance, in welcher mir in Kontakt kommen mit dem Schmerz, ohne dass er uns überwältigt und hinwegschwemmt. Anders formuliert: Was losgelassen werden soll, muss sich erst noch einmal vollständig zeigen (dürfen).

Eine Vorstellung vom guten uns vollständigen Leben

Wenn das Lösen bzw. Ablösen von einer einschränkenden Überlebensstrategie nicht einfach, manchmal auch schmerzhaft und in fast allen Fällen von Unsicherheiten begleitet ist, braucht es natürlich gute Gründe für diesen Prozess, welcher gleichzeitig eben auch ein Heilungsprozess bezogen auf eine Urwunde ist.

Manchmal wird man durch das Leben scheinbar dazu gezwungen. Dies kann eine schwere Erkrankung sein oder auch eine Veränderung in den Lebensumständen, welche ein anderes Ausmaß an Verantwortung gerade auch für andere Menschen mit sich bringt. Wir sind dann sozusagen am Ende der Tauglichkeit der Überlebensstrategie angekommen.

Für eine erfolgreiche Veränderung (im Sinne der Heilung einer Urwunde) ist es aber auch gut, neben der Notwendigkeit des Lösens vom Alten eine Aussicht auf die Vorzüge und Freuden des Neuen zu haben. Meist gibt es in der Vergangenheit eine Referenzerfahrung, wo wir für einen Moment aus der Überlebensstrategie herausgefallen sind und dadurch uns freier, glücklicher oder erfüllter gefühlt haben, auch wenn es vielleicht nur für einen kurzen Moment war. Solche Referenzerfahrungen, wo wir einmal von dem vollständigerem Leben gekostet haben, sind wichtig zu erinnern. Ebenso benötigen wir in die Zukunft hinein eine Vorstellung, vielleicht manchmal auch nur eine Ahnung, über die Fülle eines nicht nur auf das Überleben fokussierten Lebens.

Eine Metapher für die Heilung von seelischen Urwunden: Die seelische Narbe

Bei etlichen körperlichen Verletzungen entsteht am Ort der ursprünglichen Verletzung eine Narbe. Narbengewebe ist sehr fest und sehr wiederstandsfähig. Wenn wir auf eine solche Narbe an unserem Körper schauen, können wir uns erinnern: Das war damals, als ich diesen bestimmten Unfall hatte. Wir können uns erinnern, wie es damals war. Wir können uns vielleicht auch erinnern, welche Schmerzen wir damals hatten. Und manchmal kommt uns zu Bewusstsein, dass wir aus der Erfahrung etwas Wichtiges gelernt haben. Nur: Auch wenn wir uns an die damaligen Schmerzen erinnern können, fühlen wir jetzt nicht diesen Schmerz. Der liegt in der Vergangenheit, die Erinnerung ist nur eine Erfahrung, derer wir uns bewusst werden. Jetzt ist die Wunde verheilt und schmerzt nicht mehr.

Dies wäre das Bild, im übertragenen Sinne, für eine Heilung von seelischen Wunden. Wir können uns erinnern, wie es damals war und auch, wie schmerzhaft es damals war. Da muss nichts beschönigt oder verdrängt werden. Es war so, wie es war – und damals war es schmerzhaft. Und gleichzeitig wissen wir: Es ist vorbei, jetzt ist es anders. Im Zusammenhang mit seelischen Urwunden bedeutet dies vor Allem: Jetzt bin ich nicht mehr das kleine Kind, jetzt verfüge ich über andere Handlungsmöglichkeiten.

Vielleicht ein letzter Aspekt im Vergleich mit einer körperlichen Narbe: Viele Narben sind nicht unmittelbar sichtbar, sondern meist von Kleidung bedeckt und nur Menschen, die uns nahe stehen, bekommen die Narben zu Gesicht.    
Bei seelischen Narben, nachdem die Urwunde verheilt ist, kann es ähnlich sein. Nicht jeder muss meine seelische Narbe kennen und sehen, dass hier einmal eine seelische Wunde war, welche ihre Spuren hinterlassen hat. Aber wer mir (genügend) nahe steht, darf um die Narbe wissen, die auf eine alte Verletzung verweist.